Was Percy Fawcett niemals fand: Urbanismus im bolivianischen Amazonasgebiet

[Attribution: José Iriarte; Copyright: DAI KAAK]

Ein Beitrag von Heiko Prümers

Die Geschichte der Expedition von Colonel Percy Fawcett auf der Suche nach einer versunkenen Stadt im Amazonasgebiet ist durch den Film „Die verlorene Stadt Z“ weithin bekannt geworden. Fawcett startete seine erste Expedition 1914 in Bolivien, und auf seinem Weg in den Mato Grosso traf er in der kleinen Stadt Alianza an der bolivianisch-brasilianischen Grenze den schwedischen Ethnologen Erland Nordenskiöld.

Nordenskiölds Urteil über Fawcett ist eindeutig: „In Alianza treffen wir den tüchtigen, aber etwas phantastischen Forschungsreisenden Oberst Fawcett und seine Begleiter, die in das unbekannte Innere vordringen wollen.“

Nordenskiöld war nicht auf der Suche nach einer versunkenen Stadt, aber er interessierte sich für die prähispanischen Siedlungsplätze im bolivianischen Tiefland und führte an mehreren von ihnen Ausgrabungen durch. Er war somit der erste Erforscher jener monumentalen Siedlungen der Casarabe Kultur, die wir in unserem Artikel auf der Grundlage von Lidar-Daten als zentrale Elemente eines „Urbanismus geringer Dichte“ (low-density urbanism) interpretieren.

Auch wir (Heiko Prümers / DAI und Carla Jaimes Betancourt / damals noch Studentin der Universidad Mayor de San Andrés in La Paz und heute Professorin an der Universität Bonn) waren nicht auf der Suche nach Städten, als wir vor mehr als 20 Jahren mit archäologischen Ausgrabungen in zwei „Hügeln“ nahe des Dorfes Casarabe begannen. Zu jener Zeit beeinflussten die Postulate des ökologischen Determinismus noch in gewissem Maße die Wahrnehmung der Entwicklung der amazonischen Gesellschaften. Man ging davon aus, dass die Böden in Amazonien so nährstoffarm seien, dass eine Entwicklung zu komplexeren Gesellschaften in vorspanischer Zeit unmöglich gewesen sei.

Die Llanos de Mojos, jenes südwestliche Randgebiet der Amazonasregion, das einen Großteil des bolivianischen Tieflandes ausmacht, ist eine brettebene Savanne, die alljährlich während der Regenzeit (Dezember – März) in weiten Teilen unter Wasser steht. Sie ist also, auf den ersten Blick, nicht unbedingt eine Region, die zur dauerhaften Besiedlung prädestiniert scheint. Dennoch gibt es genau dort viele noch heute obertägig sichtbare Spuren aus vorspanischer Zeit. Neben den „Hügeln“ sind dies hauptsächlich Dämme und Kanäle, die oft kilometerweit schnurgerade über die Savannen führen. All dies spricht für eine relativ dichte Besiedlung in vorspanischer Zeit und unser Ziel war es hier Grundlagenforschung zu betreiben und Antworten zu suchen auf unzählige Fragen: Wie datieren die „Siedlungshügel“?, wie sind sie entstanden?, welche Funktion hatten sie? Wovon ernährten sich ihre Erbauer?  Wie war die Sozialstruktur der Gesellschaft? etc.

Auf viele jener Fragen können wir heute Antworten geben. Die Casarabe Kultur (so benannt nach dem größten Dorf der Region) datiert in die Zeit zwischen 500 – 1400 n.Chr. und erstreckte sich nach derzeitigem Kenntnisstand über eine Region von rund 16.000km2, was der Fläche von Thüringen entspricht. Die „Hügel“ sind in Wirklichkeit erodierte Pyramidenstümpfe und Plattformbauten, die ausschließlich aus Lehm erbaut wurden, da Steine in dem alluvialen Schwemmland der Llanos de Mojos nicht vorkommen. Die Erbauer dieser Bauten waren gut ernährt und ihre Durchschnittsgröße lag über der von heute im Amazonasgebiet lebenden ethnischen Gruppen. Sie waren sesshafte Bauern, die zudem Jagd und Fischfang betrieben und in einer Gesellschaft mit deutlicher sozialer Schichtung lebten. Letzteres zeigt sich in den Gräbern, der Verteilung von Feinkeramik und Importgütern innerhalb der Fundorte und vor allem in deren Monumentalarchitektur.

Diese in Plänen zu erfassen ist mit konventioneller, terrestrischer Vermessung eine Herausforderung. Allein für den Fundort Loma Salvatierra erstreckten sich die Vermessungsarbeiten über drei Kampagnen (2004-2006; jeweils 8-10 Wochen Feldarbeit), in denen konstant 10 „Macheteros“ Vermessungsschneisen durch die dichte Vegetation legten, damit der bolivianische Ingenieur Renan Torrico etwas mehr als 20.000 Meßpunkte aufnehmen konnte. Das Ergebnis rechtfertigte alle Anstrengungen, denn zum ersten Mal wurde sichtbar, dass unter der Vegetation mehr verborgen lag als nur „ein Hügel“. Wir konnten den terrassierten Kernbereich erkennen, die Graben-Wall-Anlage, die den Fundort umschließt, Kanäle, die vom Fundort weg zu kreisrunden Reservoiren führten und viele andere Details, die noch ihrer Deutung harren.

Und dann kam Lidar. Erstmals im Jahr 2000 auf einer Tagung als vielversprechende Technologie für die archäologische Forschung vorgestellt, hat diese Technologie in den letzten zwei Jahrzehnten die archäologische Forschung weltweit revolutioniert. Dank einer Förderung der DFG konnten wir 2011 die Lidar-Technologie einsetzen um vorspanische Grabenwerke in der Region von Baures zu kartieren, die zu jener Zeit im Fokus unserer Forschung standen. Es war der erste Einsatz von Lidar für die archäologische Forschung im Amazonasgebiet. Die Ergebnisse waren hervorragend und zeigten, wie effektiv die Technologie auch im dichten Regenwald war.

Dass nun auch die großen Siedlungen der Casarabe-Kultur mit LiDAR kartiert werden konnten, ist der Kooperation von fünf Inbstitutionen zu verdanken:
– Kommission für Archäologie Außereuropäischer Kulturen (KAAK) des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI); Heiko Prümers
– Abteilung für Alt-Amerikanistik der Universität Bonn; Carla Jaimes Betancourt
– Department of Archaeology, University of Exeter; José Iriarte und Mark Robinson
– Vicepresidencia del Estado Plurinacional de Bolivia, Programa de Intervenciones Urbanas
– ArcTron; Martin Schaich

Das Team vor dem Helicopter [Attribution: anonym; Copyright: DAI KAAK]

Die Arbeiten waren für die letzte Septemberwoche 2019 angesetzt, doch gab es zunächst einige Hindernisse. Die vielen Feuer rings um Trinidad, der Hauptstadt des Departments, machten eine Befliegung unmöglich (in der Trockenzeit zwischen Juli und Oktober jeden Jahres werden in der Region alljährlich riesige Fläche abgebrannt). Dann setzte starker Regen ein, der zwar die Feuer löschte, die Arbeiten aber um weitere Tage verzögerte. Am 1. Oktober konnten wir schließlich die erste Datenerhebung erfolgreich durchführen und nach weiteren 4 Tagen waren 200km2 vollständig kartiert. Die Auswertung der Daten, durchgeführt unter der Leitung von Martin Schaich durch die Firma ArcTron, benötigte dann noch einmal einige Monate, aber, wie auch der jetzt publizierte Artikel zeigt, übertraf das Ergebnis unsere Erwartungen.

Erstmals können wir von vorspanischem Urbanismus im Amazonasgebiet sprechen und einen Plan des Fundortes Cotoca vorweisen, der größten uns bislang bekannten Siedlung der Casarabe-Kultur. Mit einer Nord-Süd-Ausdehnung von 1,5 km und einer Ost-West-Ausdehnung von rund 1 km ist sie so groß wie Bonn im 17. Jahrhundert. Wie viele Menschen dort wohnten, ist unbekannt und auch grobe Schätzungen würden derzeit jeglicher Grundlage entbehren. Die Anlage der Siedlung selbst verrät uns aber, dass hier eine „planende Hand“ und viele „tatkräftige Hände“ zu Werke waren. Veränderungen, wie z.B. die Erweiterung des Wall-Graben-Systems, sprechen zudem für eine ordentliche Zunahme der Bevölkerung, die eine solche Maßnahme notwendig machte.

Die Lidar-Kartierung zeigt aber auch die dammartigen Wege und Kanäle, die die einzelnen Siedlungen miteinander verbinden und für ein enges soziales Gefüge sprechen. Im Umkreis von 5km – also in 1 Stunde Fußmarsch Entfernung – um jede der uns heute bekannten Siedlungen findet sich mindestens eine weitere. Die gesamte Region war also dicht aufgesiedelt, ein Muster, das alle bisherigen Vorstellungen über den Haufen wirft.

Bei aller Euphorie über die phantastischen Fundortpläne und die Möglichkeiten, die sie für die Neuinterpretation jener Siedlungen in ihrem geographischen Umfeld bieten, darf man allerdings nicht vergessen: Die eigentliche archäologische Arbeit steht noch aus.

Zum Schluss noch ein kleines Zahlenspiel. Das Areal des Fundortes Salvatierra, das von uns 2004-2006 „konventionell“ in 20 Arbeitswochen mit einer Total-Station vermessen wurde, hatte eine Fläche von 0,8 km2. Das 2019 mittels Lidar vermessene Gebiet ist 250 mal so groß (200 km2), es konventionell zu vermessen hätte demnach 5000 Wochen in Anspruch genommen, also gut 416 Jahre.

Die Ergebnisse des Projekts sind soeben in einem Nature-Artikel veröffentlicht worden:
DOI 10.1038/s41586-022-04780-4
https://www.nature.com/articles/s41586-022-04780-4

Weitere Information auch in der DAI-Pressemitteilung vom 25. Mai 2022: https://www.dainst.org/-/lidar-reveals-pre-hispanic-low-density-urbanism-in-the-bolivian-amazon

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