Out of Homeoffice – Expedition zu Funden aus dem Iran im British Museum

Autorin: Gunvor Lindström

Endlich wieder archäologische Funde in die Hand bekommen! Und endlich wieder reisen! Ende September 2021 wurde mir eine „Audienz“ im British Museum gewährt. Im Studiensaal des Department of the Middle East konnte ich dann drei Tage lang Funde aus einem 1936 erforschten Fundort im Iran in Augenschein nehmen, für die sich vor mir nur wenige Archäologen interessiert hatten.

Copyright: Gunvor Lindström, DAI

Kleine- und große Funde aus Kal-e Chendar

Die 35 von mir untersuchten Funde sind Teil eines größeren Fundkomplexes, dessen überwiegender Teil sich im Iranischen Nationalmuseum befindet. Der kleinere, britische Teil der Funde war im Januar 1936 von dem berühmten Forschungsreisenden und Archäologen Sir Aurel Stein auf seiner vierten und letzten Expedition in den Iran entdeckt worden. Der Bezirksgouverneur von Izeh in Khuzistan hatte ihm kurz zuvor mehrere Statuen und Bruchstücke gezeigt, welche er in Kal-e Chendar im Shami-Tal, etwa 50 km nordwestlich von Izeh in den Bergen beschlagnahmt hatte. Zu diesen Skulpturen zählt auch der sogenannte „Partherfürst“ oder „Prinz von Shami“ (Abb. 2), eine fast zwei Meter hohe und beinahe komplett erhaltene Bronzestatue, die heute eine der Attraktionen des Iranischen Nationalmuseums in Teheran bildet.

Copyright: Gunvor Lindström, DAI

Der „Partherfürst“ in einer Aufnahme von 1936 (nach der Beschlagnahmung in Izeh) und von 2016 (bei projektvorbereitenden Untersuchungen in Teheran). Die Figur stellt wahrscheinlich einen elymäischen Herrscher der Mitte des 1. Jhs v. Chr. dar. Das antike Land Elymais entspricht in etwa der heutigen iranischen Provinz Khuzistan.

Die beschlagnahmten Statuen wurden bald darauf aus Izeh nach Teheran gebracht. Doch Aurel Stein, der die Bedeutung der Skulpturen erkannt hatte, unternahm im Januar 1936 eine kurze, sechstägige Ausgrabung am Fundort der Statuen in Kal-e Chendar. Dabei legte er er ein kleines Heiligtum frei, das er aufgrund der Funde in die späte hellenistische und parthische Zeit (2. Jh. v. Chr. – 2. Jh. n. Chr.) datieren konnte. Er entdeckte einen zentralen Altar und mehrere Basen für Statuen und Statuetten sowie zahlreiche Kleinfunde, die er aufgrund einer Vereinbarung mit der Iranischen Antikenbehörde nach England verschiffen konnte, um sie im British Museum in London zu untersuchen. Nach einer 1937 vorgenommenen Fundteilung wurden einige Bruchstücke von Statuen zurück in den Iran gesendet, wo sie zusammen mit den anderen nach Teheran verbrachten Skulpturen zum Bestand des Iranischen Nationalmuseums gehören. Die dem British Museum zugesprochenen Funde verblieben jedoch in London.

Die Verteilung der Funde auf zwei Museen und Kontinente stellt eigentlich für meine im Februar 2021 begonnenen Forschungen zu den Skulpturen aus Kal-e Chendar eine Schwierigkeit dar. Denn diese haben zum Ziel, die Statuen und ihre Fragmente erstmals im Zusammenhang zu betrachten. In der besonderen Situation des Jahres 2021, die eine Reise in den von der Pandemie besonders betroffenen Iran unmöglich machte, hatte die Aufteilung der Funde jedoch etwas Gutes. Denn dadurch konnte ich zumindest die in London verwahrten Funde wie vorgesehen untersuchen. Ende September, nach der Erstellung eines umfangreichen Hygienekonzeptes für die Reise und den Aufenthalt, ging es also los nach London. Dort hatten mir die zuständigen Kuratoren bereits die Funde im altehrwürdigen Studiensaal in drei großen Schubladen auf den Tisch gestellt. Sie enthielten 35 von Aurel Stein gemachte Funde. Diese sind zwar im online-Katalog des British Museum verzeichnet, doch da sie dort ohne Fotos und mit knappen, wenig aussagekräftigen Beschreibungen aufgeführt sind, war es unbedingt notwendig, sie in Augenschein zu nehmen.

Wie sich herausstellte, befanden sich unter den Kleinfunden nur 14 Bruchstücke von Bronzestatuen. Die meisten sind so klein, dass sich nicht sagen lässt, zu was für Statuen sie ursprünglich gehörten. Ausnahmen bilden aber beispielsweise der große Zeh eines rechten Fußes, der auf einer lebensgroße Statue eines Gottes oder Herrscher im griechischen Stil hindeutet. Aufschlussreich ist außerdem ein 21 cm langes Fragment eines Oberschenkels. Dieses lässt auf eine unbekleidete, sitzende Figur schließen, die höchstwahrscheinlich eine mythologische Gestalt darstellte.

„Shami. Small finds from ruined shrine“. Am 30.1.1936 von Aurel Stein in Kal-e Chendar gefundene Bruchstücke von Bronzestatuen, British Museum, Department oft he Middle East, Registration Number 1947,0501.625. Trotz der teils starken Korrosion ist zu erkennen, dass die Fragmente der hohl gegossenen Statuen auf der Außenseite poliert und auf der Innenseite nicht überarbeitet waren.

Die Studienreise nach London hat mich also nicht nur für einige Tage aus dem Homeoffice befreit, sondern auch Hinweise auf zwei überlebensgroße Statuen gegeben – Statuen, die ehemals neben dem „Partherfürsten“ und mindestens 12 anderen durch die Bruchstücke im Iranischen Nationalmuseum überlieferten Skulpturen im Heiligtum in Kal-e Chendar aufgestellt waren. Bei einer nächsten Studienreise nach London ist geplant, diese Objekte photogrammetrisch aufzunehmen, so dass digitale 3D-Modelle erstellt werden können. Außerdem sollen naturwissenschaftliche Untersuchungen Aufschluss über die Zusammensetzung der Bronzen bzw. ihre Legierung bilden. Mit diesen Daten im Gepäck geht es dann in den Iran, um zu sehen, ob einige der Londoner Bronzefragmente an die Teheraner Skulpturen anpassen.

Insgesamt haben die im Februar 2021 begonnenen Forschungen zum Ziel, die Skulpturen aus Kal-e Chendar archäologisch, kunsthistorisch und technikgeschichtlich einzuordnen. Dafür sollen unter anderem die größtenteils in Fragmenten überlieferten Statuen zeichnerisch oder im digitalen 3D-Modell rekonstruiert werden. Die hier vorgestellten Überlegungen zum großen Zeh und Oberschenkelfragment zeigen exemplarisch, wie selbst kleine Fragmente bei genauer Betrachtung Hinweise auf das Aussehen und die Bedeutung der Statuen geben.


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