Wo genau ist eigentlich der Himmel? Irgendwo draußen, über den Dächern, zwischen den Baumspitzen? Wer seinen Blick nun fragend in die Höhe richtet, wäre überrascht, was ihm die einstigen Reiternomaden der Liao-Dynastie geantwortet hätten. Denn diese schufen sich vor rund Eintausend Jahren einen eigenen Himmel, tief unter der Erde. Noch immer können wir ihn sehen, ihn erforschen, ihm immer etwas näher rücken.
Startbild: Pferd mit Dienern, Westwand der Vorkammer des Zhang Shigu, M5. Aus: Xuanhua Liaomu: Bd. 2, Farbtafel 76.
Zeichen der kulturellen Hybridisierung in den Wandmalereien der Xuanhua-Gräber, Liao-Dynastie 907-1125
von Cataria Fahrendholz
Als ich auf der Suche nach einem Thema für meine Masterarbeit in einem dicken Bildband blätterte, entdeckte ich zum Ersten Mal die Wandmalereien der Liao (907-1125). Sie zeigen Diener bei der Zubereitung von Speisen und Getränken, bei Ausflügen zu Pferd und beim Darreichen von Schriften. Musiker und Tänzer tragen während der Bankette zur Unterhaltung bei, Torwächter bewachen und beschützen die Eingänge, Kinder spielen Versteck. Mit all diesen Motiven bemalten die Liao die Wände ihrer unterirdischen Gräber.
Ursprünglich waren die Liao ein turkstämmiges Reitervolk aus dem Norden Chinas. Sie nannten sich Kitan, lebten als Nomaden in der Steppe, schlugen ihre Jurten, je nach Jahreszeit, immer wieder woanders auf und blieben nie lange an einem festen Ort. Ihr Glaube galt den Naturgeistern und schamanischen Künsten. Die Toten legten sie in den Baumkronen nieder.
Mit dem Zerfall des chinesischen Tang-Reichs (618-907) gewannen die Kitan an Stärke. Es gelang ihnen, große Teile Nordchinas zu besetzen und Herrscher zu werden, über die dort lebende Bevölkerung aus Mongolen, Tungusen, Dschurdschen, Koreanern und Han-Chinesen. Am Fluss Liao gründeten sie eine Dynastie im chinesischen Stil: Die Liao-Dynastie. Doch ein Teil ihrer Untertanen war sesshaft und führte ein bäuerliches Leben. Wie sollten die Kitan, als nomadische Minderheit, in ihrem eigenen Reich damit umgehen? Sie waren zwar ein mobiles Leben gewohnt, aber sich dauerhaft niederzulassen, und die Vorzüge einer festen Behausung zu erleben, schien Sicherheit und Aufstieg zu versprechen. Doch was bliebe dann noch vom einstigen Steppenvolk? Von einem Selbst? Sollten sie alles Alte wirklich aufgeben?
Die Liao entschieden sich anders. Ihr Weg war unkonventionell. Sie erfanden ein zweiteiliges Regierungssystem, das in der Lage war, Kitan-eigene und chinesische Grundsätze zu regeln. Sie fertigten Keramikgefäße, welche nomadische Zweckmäßigkeit mit chinesischem Dekor verbanden. Und sie errichteten unterirdische Kammergräber, kremierten Leichname nach buddhistischer Tradition und füllten die Asche in lebensgroße Effigies, Nachbildungen der Körper, aus Holz oder Stroh. Umhüllt von Totengewändern, in denen schamanische, steppennomadische, buddhistische und chinesische Elemente zusammenkamen, legten sie die Effigies in einen Sarkophag. Schließlich schrieben sie magische Verse aus dem Geheimen Buddhismus und dem Daoismus, in Chinesisch und in Sanskrit auf die Außenwände der Holzsärge und verfassten Epitaphe aus Stein.
Was sie sich außerdem einfallen ließen, zeigen uns die Liao noch heute, auf einer rund dreihundert Quadratmeter großen Fläche des Xuanhua-Friedhofs, unterirdisch, bemalt und durchzogen von hybrider Natur.
In einer der Küchenszenen sehen wir eine außergewöhnliche Flasche. Längs und quer verflochtene Streben aus Bambus oder Rattan bilden eine hölzerne Hülle, die das blau glasierte Gefäß ummanteln. Mithilfe eines Henkels, der über seitliche Laschen mit der Halterung verbunden ist, kann die Flasche eingehängt in einen Stab oder auch per Hand getragen werden. Feingliedrige Lotosblütenblätter auf den Schultern und ein blütenförmig eingezogener Hals dekorieren die Keramik.
Tragbare Flasche mit eingraviertem Lotos
Ostwand der Vorkammer des anonymen Zhang-Grabs M6. Aus: Xuanhua Liaomu: Bd. 2, Farbabb. 48.
Als Nomaden in den Steppen Asiens wussten die Kitan genau, wie sie Gefäße am besten transportieren konnten. Entweder handelte es sich um kleine, leichte Beutelflaschen, die griffbereit am Gürtel hingen. Oder aber die Gefäße hatten Hüllen, Ösen, oder Laschen, um sie mithilfe von Seilen über die Schulter zu hängen oder sie an Pferden festzubinden. Was wir hier sehen, ist die Vereinigung zweier Grundgedanken: Zweckmäßigkeit und Dekor. Transportfähigkeit und die Verwendung natürlicher Materialien wie Bambus oder Rattan, die in bereits vertrauter Technik des Flechtens verbunden wurden, betonen den Charakter der Nomadenkultur. Hoch gebrannte, farbig glasierte Keramik und das eingravierte Lotosdekor hingegen, entstanden erst durch den Kontakt zu China.
Ein anderes Bild zeigt einen Torwächter in typischer Kitan-Kleidung. Im Winter hielten die vielen Lagen warm, im Sommer ermöglichte eine durchdachte Schnitttechnik, unnötigen Stoff einfach hoch zu binden, runter zu rollen oder nach hinten wegzuklappen. Gewebte und bestickte Muster, die wir auf den Gewändern weiterer Diener finden, erinnern an chinesische Seide. Interessanter Weise reichen die kulturellen Bezüge nicht nur bis ins südliche Song-China (960-1279), sondern sie führen uns auch westwärts zur Seidenstraße. Der schmale, lange, leicht gewellte Schnurrbart des Torwächters, sein pausbackiges Gesicht, das leichte Doppelkinn und die großen, runden Augen mit einer verlängerten Augenwinkellinie zu den Ohren hin, offenbaren erstaunliche Ähnlichkeiten zu den Bodhisattva-Darstellungen Zentralasiens.
Torwächter in Obergewand mit variablen Ärmeln
Westwand der Vorkammer des Grabs von Zhang Kuangzheng, M10. Aus: Xuanhua Liaomu: Bd. 2, Farbtafel 5.
Die Vermischung von Stilen und Ideen unterschiedlichen Ursprungs zieht sich wie ein Leitmotiv durch alle Lebensbereiche der Liao. Überall dort, wo sie es nützlich fanden, übernahmen sie die Elemente anderer Kulturen und trotzdem gelang es ihnen, ihre eigene Identität zu bewahren. Manchmal war es die äußere Erscheinungsform, in der sich hybride Elemente erkennen ließen. Aber auch in der Funktion, der Herstellung oder im verwendeten Material der dargestellten Motive, können wir Vorgänge von Hybridisierung finden. Sogar der Grabbau selbst präsentiert sich als vielschichtiger Komplex mit ganz eigenem Konzept.
Die Liao brachen mit den Konventionen und formten stattdessen einen eigenen Ideenkosmos in dem sie lebten. Wie wörtlich wir das tatsächlich nehmen können, zeigt uns ein Blick an die runde, gewölbte Grabdecke. Wir sehen dort keine Deckenplatten, sondern den Sternenhimmel, kosmische Zeichnungen und ungeahnte Weiten. Wir treffen auf Tierzeichen des chinesischen Kalenders, Tierkreiszeichen aus der westlichen Welt, Bildelemente koreanischer Adelsgräber und einen schamanischen Schutzspiegel. Die unterschiedlichen astronomischen Vorstellungen, die hier zugrunde liegen und ihr vielfältiger kultureller Hintergrund, existierten nicht nur nebeneinander. Die Liao verbanden sie. Und schufen sich tief unter der Erde einen ganz eigenen Himmel, mit eigenen Bestattungsregeln, um unter ihm in der Nachwelt fortzuexistieren.
Die Masterarbeit soll ein multikulturelles Verständnis dafür wecken, dass sich das heutige China aus vielen Komponenten zusammensetzt. Die Geschichte der Kitan und ihre Untersuchung ist wichtig für das Wissen über die Entwicklung der nördlichen Völker im alten China und auch für Chinas fortdauernde und sich entwickelnde Rolle im 21. Jahrhundert. Je vielfältiger das Leben malerisch umrissen wurde und je hybrider sich die Inhalte gestalteten, desto ranghöher war der Platz in der Familienstruktur. Ich könnte mir vorstellen, dass die Liao Vielfalt ganz bewusst als Mittel und Maßstab für die Wertschätzung des Verstorbenen zu Lebzeiten einsetzten.
Zu der heute immer wichtiger werdenden Frage, inwieweit sich eine Gesellschaft anderen Kulturen, die Immigranten mitbringen, gegenüber öffnen soll, finden wir in der Geschichte interessante Wege. Wege, wie die der Liao. Es ist ein Zeichen von Stärke, sich als Herrscher selbst, aber auch den heimatlosen Chinesen des zerfallenen Tang-Reichs zu erlauben, beides zu sein, Han-Chinesen und trotzdem Kitan.
Danksagung:
Die Masterarbeit wäre ohne die Unterstützung meiner beiden Betreuerinnen Prof. Dr. Mayke Wagner und Prof. Dr. Jeong-hee Lee-Kalisch niemals möglich geworden. Meinen Herzlichen Dank!
weiterführende Literatur:
Kuhn, D., 1997
Die Kunst des Grabbaus: Kuppelgräber der Liao-Zeit (907-1125). Heidelberg: Ed. Forum, 1997.
Shen, H., 2006.
Hsueh-man Shen (Hrsg.), Ausstellungskat.: „Liao: Chinas vergessene Nomadendynastie (907-1125)“, 27. Jan.-22. Apr. 2007, Museum für Ostasiatische Kunst Köln, Zürich: Museum Rietberg, 2006.
Xuanhua Liaomu, 2001.
Hebei sheng wenwu yanjiusuo (Hrsg.), Xuanhua Liaomu: 1974-1993 nian kaogu fajue baogao [Die Liao-zeitlichen Gräber in Xuanhua: Berichte der Ausgrabungen zwischen 1974 und 1993]. 2 Bände, Beijing: Wenwu chubanshe, 2001.