Der Mann mit dem Stelzbein

„Hast Du sowas schon mal gesehen?“ fragte Kollege Li und hielt mir den Fund hin. Ja, hatte ich, am Bein des Piraten Long John Silver im Film „Die Schatzinsel“ nach dem Roman von R. L. Stevenson. Aber dieses Stelzbein aus Holz stammte aus einem zweitausend Jahre alten Grab bei Turfan, Westchina, einer der trockensten Gegenden der Welt, deshalb blieb es bis heute erhalten. Die Turfaner Archäologen hatten es 2007 am Fundplatz Shengjindian geborgen und luden uns ein, 2010 gemeinsam die Stelze und ihren Träger zu untersuchen.

Das war unser Team:
Mayke Wagner, Julia Gresky und Patrick Wertmann (DAI, Berlin), Xiao Li (School of Chinese Classics Renmin University of China, Beijing), Yongbin Zhang (Turfan Academy), Xiaohong Wu (School of Archaeology and Museology, Peking University), Pavel Tarasov (Paläontologie, Institut für Geologische Wissenschaften, Freie Universität, Berlin), Tomasz Goslar (Faculty of Physics, Adam Mickiewicz University, Poznan Radiocarbon Laboratory, Poznan), Arno Schmidt (Otto Bock HealthCare, Duderstadt)

Das sind die Publikationen:
Unsere Entdeckungen haben wir 2012/2013 in Englisch publiziert, der Journalist Hakan Baykal machte daraus eine Meldung im Tagesspiegel vom 23.06.2013 und in Spektrum der Wissenschaft, und wir schrieben einen Beitrag in Archäologie in Deutschland:

Wagner, M., Gresky, J., Tarasov, P. (2017) Inklusion vor 2300 Jahren. Archäologie in Deutschland 2, 2017, 14–19.

Hakan Baykal (2013):
https://www.spektrum.de/magazin/der-mann-mit-dem-holzbein/1187956

https://www.tagesspiegel.de/wissen/aelteste-prothese-der-welt-in-china-entdeckt-der-mann-mit-dem-ersten-holzbein/8384220.html

Li, X., Wagner, M., Wu, X., Tarasov, P., Zhang, Y., Schmidt, A., Goslar, T., Gresky, J. (2013) Archaeological and palaeopathological study on the third/second century BC grave from Turfan, China: Individual health history and regional implications. Quaternary International 290-291, pp. 335-343. https://doi:10.1016/j.quaint.2012.05.010

Weil keiner dieser Artikel, nur die Nachricht im Tagesspiegel, frei online verfügbar ist, fassen wir hier das Wichtigste für Sie zusammen.

Das Stelzbein

Mit einer Gesamtlänge von 89,2 cm besteht es aus: (1) einer flachen Platte, mit der es am Oberschenkel fixiert werden konnte (Breite 8,8 cm, maximale Dicke 2,5 cm); (2) einer Rundholz-Stelze (Durchmesser 3,6 cm); (3) einem Schafshorn zur Verstärkung des Stelzenendes und (4) einem darüber gezogenen Huf eines asiatischen Esels, der wie ein Skistockteller das Einsinken in weichen Untergrund verhindert. Das obere Ende der Oberschenkelplatte hat zwei Löcher mit gerade nach oben ziehenden Abriebkerben, die wahrscheinlich von den Lederriemen verursacht wurden, mit denen sie an einen Hüftgürtel gebunden war. (A) Innenseite, die am Oberschenkel anlag, (B) und (C) Außenseite. (Zeichnung: Museum Turfan, Foto: J. Gresky)

Die Innenseite der Oberschenkelplatte zeigt deutlich die Konturen des Knies, das die Platte abgerieben hat. Die Oberfläche der Außenseite ist dunkel und rau mit Ausnahme des glänzenden oberen Endes, das wahrscheinlich von Kleidung oder einem Gürtel bedeckt war. An diesen Spuren kann man erkennen, dass das Stelzbein an der Außenseite des linken Beines anlag. Unter dem Knie am Übergang von der flachen Oberschenkelplatte zur runden Stelze ist eine Bruchstelle mit einem Lederriemen repariert worden. Die anderen Löcher, drei auf jeder Seite, dienten der Befestigung am Oberschenkel. Die erhalten gebliebenen Riemen und tiefe, nach unten gerichtete Abriebkerben gestatten eine Rekonstruktion der Befestigung in folgender Weise: Ein kurzer Riemen wurde so durch zwei benachbarte Löcher gefädelt, dass die Enden an der Innenseite der Platte herauskamen. Ein Ende wurde in zwei Hälften gespalten und in das andere ein Schlitz geschnitten, so dass sie mit einer Oberschenkelhülle verknüpft werden konnten. Auf diese Art wurde die Platte an drei Punkten auf jeder Seite mit etwas verbunden, das den Oberschenkel umgab und die Belastung durch Druck oder Schnürung abminderte. Was das war – eine Ledermanschette, eine andere Holzplatte oder eine feste, aber stabile Seidenbandage – wissen wir nicht, da nichts weiter gefunden wurde. (Fotos: M. Wagner)

Das Ende des Rundholzes war in ein begradigtes Horn gezwängt worden, das wegen seiner Ringstruktur nur von einem Schaf stammen kann. Seine nach vorn weisende Spitze ist vom dauernden Ziehen über harten Boden schräg geschliffen. Der Huf über dem Horn wurde mit einem Lederriemen in dieser Position gehalten, der durch ein horizontales Loch durch Horn und Stelze gezogen war. Die gesamte Prothese wurde ohne Metall konstruiert. (Fotos: M. Wagner)

 

Wie alt ist es?
Für eine zuverlässige Altersbestimmung wurden drei Proben vom Stelzbein und sieben weitere Proben von anderen Objekten aus dem Grab im Radiokarbon-Labor der Peking-Universität von X.H. Wu gemessen. Durch Modellierung des Datenclusters konnte T.  Goslar das Alter der Bestattung eingrenzen auf 300 bis 200 Jahre v. Chr. Das Stelzbein aus Turfan stammt also aus derselben Zeit wie das berühmte „Bein von Capua“, der ältesten bekannten Beinprothese. Bestehend aus einem mit Bronzeblech umhüllten Holzkern wurde es 1885 aus dem Grab vermutlich eines Gladiators geborgen, anhand typologischer Merkmale der mitgegebenen Amphoren auf ca. 300 v. Chr. datiert und vom Museum des Royal College Surgeons in London erworben, wo es während des Zweiten Weltkriegs verlorenging.

Der Mann und seine Krankengeschichte

Das Stelzbein gehörte einem 50 bis 65 Jahren alten, 170,4 bis 178,2 cm großen und muskelbepackten Mann. Das linke Kniegelenk ist stark deformiert. Alle Knochen (Oberschenkel, Kniescheibe, Schien- und Wadenbein) sind miteinander verwachsen und das Gelenk ist gebeugt in einem Winkel von 135° versteift, wobei der Unterschenkel zusätzlich noch um 11° nach innen verdreht ist. Beide Unterschenkel haben etwa dieselbe maximale Länge, der Mann war also zum Zeitpunkt der Erkrankung vollständig ausgewachsen. Mit Röntgenaufnahmen und Computertomographie im Krankenhaus in Turfan haben wir mechanische Verletzungen, einen Sturz oder Schlag, als Ursache dieser pathologischen Veränderungen ausgeschlossen. Rheumatische Arthritis scheidet auch aus, da keines der anderen Gelenke ähnliche Veränderungen aufweist. (Foto: J. Gresky)

 

Verknöcherte Gelenkversteifungen sind jedoch als Folge von Infektionen mit Mycobacterium tuberculosis oder Mycobacterium bovis, beides Erreger der Tuberkulose beim Menschen, bekannt. Die Infektion breitet sich im Allgemeinen nach Tröpfcheninfektion über die Atemwege in den Lungen aus, Erreger können aber auch durch die Aufnahme infizierter Milch über den Verdauungstrakt in den Körper gelangen. In einem ersten Stadium ist vor allem die Lunge betroffen, später kann auch ein Befall des Skelettes hinzukommen, am häufigsten der Wirbelsäule, Hüft- und Kniegelenke. Knochenhautentzündungen an der Innenseite von Rippen treten häufig im Rahmen einer Lungentuberkulose auf. Spuren solcher Knochenhautentzündungen sind an der zweiten bis elften Rippe des Mannes zu erkennen.

Doch Knochenneubildungen zwischen dem fünften und sechsten Halswirbel zeigen, dass der Mann die Skeletttuberkulose überlebt hat.  Die Oberfläche der Knochen, die von der Versteifung des Kniegelenks betroffen sind, ist glatt. Der aktive Entzündungsprozess war also bereits Jahre vor seinem Tod abgeschlossen. Er ist nicht nur genesen, sondern zu seinem physisch sehr aktiven Leben zurückgekehrt, wie ausgeprägte Muskelansätze an allen Knochen beweisen. Nur konnte er sein linkes Bein nicht mehr strecken, nicht mehr auf beiden Beinen stehen und gehen, und wegen der Innenrotation vermutlich auch nicht reiten.

 
Bei unserer grafischen Rekonstruktion einer möglichen Tragweise des Stelzbeins in Zusammenarbeit mit  Arno Schmidt (Fa. Otto Bock HealthCare Duderstadt) haben wir uns für Hose und Frisur an zeitgleichen und besser erhaltenen Funden aus der Region Turfan orientiert. (Grafik: S. Lochmann)

Beitrag zur Geschichte der Tuberkulose
Insbesondere frühe Belege von Tuberkulose in Asien sind noch rar. Japanische Wissenschaftler hatten bereits 2003 M. tuberculosis DNA in Skeletten von Erwachsenen und Kindern aus einem reichen Friedhof nahe Turfan nachgewiesen, der zur selben Periode (202 v. Chr. – 200 n. Chr.) wie der Fundplatz Shengjindian gehört. Eine andere japanische Forschergruppe berichtete 2008 einen Fall von Wirbelsäulentuberkulose aus Korea aus dem ersten Jahrhundert v. Chr. und brachte sie mit Bevölkerungsbewegungen aus China nach Korea und Japan in Verbindung. In Südsibirien wurde 2007 M. bovis DNA in menschlichen Skelettresten aus der Zeit 360-170 v. Chr. nachgewiesen. Zusammen mit diesen Publikationen zeigen unsere Belege eine weite Verbreitung dieser Krankheit im östlichen Zentralasien und in Ostasien während der zweiten Hälfte des ersten Jahrtausends v. Chr. Diese Periode ist aus archäologischen Funden und Textüberlieferung bekannt als Zeit hoher Siedlungsmobilität und der Ausbreitung von komplexer Weidewirtschaft und berittener Kriegsführung in Eurasien zwischen dem Schwarzen Meer und der koreanischen Halbinsel. Anscheinend ist damit auch die Tuberkulose verbreitet worden.

Ein Fund – viele Entdeckungen
Auslöser für unser gemeinsames Forschungsprojekt war ein kurioser Fund, entdeckt haben wir weit mehr: die Konstruktion einer der ältesten funktionalen Beinprothesen der Welt und ein Puzzle-Stück der globalen Geschichte einer Infektionskrankheit, der noch immer jedes Jahr etwa eine Million Menschen zum Opfer fallen und an der auch R. L. Stevenson 1894 starb. Der Unterschenkel des Mannes war zwar nicht amputiert, aber  funktionsunfähig. Das Stelzbein ersetzte den versehrten Schenkel und verdient deshalb die Bezeichnung „Prothese“. Gleichzeitig ist es eine Orthese, eine stabilisierende Schiene. Sein schlichtes Grab und wenige Beigaben deuten darauf hin, dass der Mann keine herausragende sozial Stellung hatte.  Weder elegant noch aus wertvollem Material gefertigt, ist seine Prothese dennoch einzigartig im Hinblick auf ihr technisches Design, ihre Robustheit und Funktionalität. Erfindergeist und handwerkliches Geschick verhalfen einem Gehbehinderten zu freihändigem, aufrechtem Gang. Ob er sie selbst gebaut hat, können wir nicht wissen. Dass er dazu kräftig genug war, verraten die knöchernen Spuren seiner ungeheuren Muskulatur. Zweitausend Jahre später, nach dem amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) und dem Ersten Weltkrieg in Europa (1914-1919), sahen die Prothesen mit Oberschenkelstabilisator, Lederriemen und Stelze an verwundeten Soldaten und Piraten noch ganz ähnlich aus.

Autoren: Mayke Wagner, Julia Gresky, Pavel Tarasov


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