„disiecta membra“: Ein neues Langzeitforschungsvorhaben zur römischen Steinarchitektur in Deutschland

von Katja Roesler

Die Römisch-Germanische Kommission (RGK) ist eine von drei Arbeitsstellen des 2023 beginnenden Langzeitvorhabens „disiecta membra. Steinarchitektur und Städtewesen im römischen Deutschland“ im Akademienprogramm der Deutschen Akademien der Wissenschaften

Im Verbund mit Archäolog*innen der Universität Mainz und Forscher*innen vom Fachgebiet digital humanities der Universität Marburg werden wir römische Bauten und frühes urbanes Leben in Deutschland untersuchen, wobei unser besonderes Augenmerk auf der Nachnutzung römischer Bauglieder liegt. Römische Bauten prägten vielerorts als Ruinen bis ins Hochmittelalter die Landschaft. Sie wurden kontinuierlich umgenutzt oder auch als Steinbruch für neue Bauaufgaben, etwa dem Bau neuer Stadtmauern, verwendet. Neuzeitliche Schleifungen solch mittelalterlicher Bauten führten zur Wiederentdeckung und Umlagerung der antiken Architekturelemente. Diese und andere „disiecta membra“ – verstreute Teile eines ehemals Ganzen – machen den Großteil der römischen Steinarchitektur in Deutschland aus. Sie wurden bisher mehrheitlich aber noch nicht dokumentiert und ausgewertet.

Im Langzeitvorhaben werden wir etwa 25.000 Bauglieder und 5.000 Baubefunde in einer dynamischen und vernetzten digitalen Edition erschließen, einen niedrigschwelligen Zugang zu Steinarchitektur und Städtewesen im römischen Deutschland bereitstellen und Forschungen zur Architektur- und Sozialgeschichte, Bau- und Stadtforschung sowie Provenienz- und Netzwerkforschung durchführen.

An der RGK werden wir gleichzeitig zur systematischen Sammlung und Aufnahme von Baugliedern und Baubefunden durch die Kolleg*innen an der Universität Mainz die Forschungs-, Sammlungs- und Objektgeschichten sowie die historischen Akteur*innen und ihre Wissenspraktiken fallbezogen erfassen und analysieren. Und umgekehrt werden wir in Archiven auf Hinweise zu römischer Architektur suchen. Allein im Archiv der RGK finden sich zahlreiche Anhaltspunkte, so z. B. eine Postkarte mit Handzeichnung eines Sockels aus dem römischen Grenzkastell Holzhausen (Nastätten) in Rheinland-Pfalz (Abb. 1), Teil des Obergermanischen Limes, der seit 2005 den Status eines UNESCO-Weltkulturerbes besitzt.

Abb. 1: Postkarte Ludwig Pallats and Ernst Fabricius vom 8. November 1903. Sie zeigt die Handzeichnung eines Sockels, gefunden im Kastell Holzhausen (DAI-RGK-A-RLK-Notizbücher Fabricius 10, 1903, o. S.).

Diese schickte Ludwig Pallat (1867–1946) im Jahr 1903 an Ernst Fabricius (1857–1942), der damals gerade Leiter der Reichs-Limeskommission geworden war. Dieser legte die Postkarte wiederum in eines seiner Notizbücher, welche heute in der RGK aufbewahrt werden.

Pallat wollte eigentlich Kunstmaler werden, wurde aber von seinem Elternhaus zum Studium der klassischen Philologie und Archäologie mit dem Ziel des Lehrerberufs gezwungen. Gleichwohl fand er in der Archäologie genügend Möglichkeiten, seine Leidenschaft mit einer Profession zu verbinden. Nach erfolgreicher Promotion wurde er Kustos der Sammlung Nassauischer Altertümer in Wiesbaden und Streckenkommissar der Reich-Limeskommission. 

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Abb. 2: Profilzeichnung, gezeichnet von Ludwig Pallat, aus dem Kastell Holzhausen (DAI-RGK-A-RLK-Notitzbücher Fabricius 10. 1903, o.S.).
Abb. 3: Ein Sockel in situ im Kastell Holzhausen, vermutlich gezeichnet von Ludwig Pallat (DAI-RGK-A-RLK-Notitzbücher Fabricius 10. 1903, o.S.)

In dieser Funktion zeichnete er während seiner Ausgrabungen im Kastell Holzhausen Befunde und Funde.unter anderem auch direkt in die persönlichen Notizbücher seines Vorgesetzten Fabricius (Abb. 2, 3).

Die Postkarte (Abb. 1) verschickte Pallat allerdings zu einer Zeit, in der er selbst bereits am Preußischen Ministerium der Geistlichen, Unterrichts und Medizinalangelegenheiten angestellt war. Nun Ministerialbeamter, machte er dort schnell Karriere als Gutachter des Zeichenunterrichts im Preußischen Bildungssystem und ist heute für seine Reformen bekannt, die er zusammen mit seiner Frau Anne Marie Pallat, geb. Hartleben (1875–1972), entwickelt hat (s. Reimers 2009, DOI: 10.25656/01:16077).

Der von ihm dokumentierte Sockel sowie andere Zeichnungen sind, wie die Bauglieder selbst, gegenwärtig disiecta membra und sollen in den kommenden Jahren zusammengeführt und mit den physischen Objekten digital verknüpft werden.

Projektinfo:

Die im Vorhaben erarbeiteten Daten werden in engem Austausch mit den Konsortien der nationalen Forschungsdateninfrastruktur NFDI4Objects und NFDI4Culture modelliert, erfasst und u.a. in auf der Forschungsplattform iDAI.world sowie im biographischen Informationsdienst Propylaeum-Vitae frei zugänglich gemacht. Die Leitung des Vorhabens liegt bei Prof. Dr. Johannes Lipps (Johannes Gutenberg-Universität Mainz), Dr. Kerstin P. Hofmann (Römisch-Germanische Kommission) und Prof. Dr. Aline Deicke (Philipps-Universität Marburg). Die Forschungen an der RGK werden von Dr. Katja Roesler durchgeführt.

Online unter: https://www.adwmainz.de/projekte/disiecta-membra-steinarchitektur-und-staedtewesen-im-roemischen-deutschland/informationen.html