150 Jahre Hans Dragendorff – Gründungsdirektor der RGK
Von Kerstin Hofmann, Sandra Schröer, Katja Rösler
Heute wäre Hans Dragendorff 150 Jahre alt geworden. Ein Anlass für die Römisch-Germanische Kommission (RGK) auf das Leben und Wirken ihres Gründungsdirektors zurückzublicken. Neben der Ausrichtung eines – aus aktuellen Anlass virtuellen – Symposiums am 26./27. November 2020 erscheinen ein Video und eine Broschüre zu Hans Dragendorff. Auf Propylaeum-VITAE sind ferner zahlreiche Informationen zu ihm und seinem Netzwerk hinterlegt.
Hans Dragendorff – Leben und Wirken
„Die Nachwelt, die leicht nach der Fülle bedruckten Papiers den Forscher einschätzt, wird mir einmal keine Kränze flechten.“ schrieb Hans Dragendorff kurz vor seinem Tod, auf sein Lebenswerk zurückblickend in einem Brief an seinen Kollegen Hans Zeiss (1895–1944). Heute wird der Name Dragendorff – im Gegensatz zu seiner eigenen Einschätzung in diesem Zitat – oft mit einer 1895 publizierten Studie zu Terra Sigillata-Gefäßen verbunden, denn durch diese vielzitierte und genutzte Arbeit erschloss er diese Keramikgattung als wichtige archäologische Quelle. Weit weniger bekannt ist Hans Dragendorff als Wissenschaftsorganisator, Vermittler und Nachwuchsförderer, obwohl er die Entwicklung der archäologischen Forschung in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jhs. maßgeblich prägte.
Hans Dragendorff wurde am 15. Oktober 1870 in Dorpat (heute Tartu, Estland) als Sohn des Pharmazeuten Georg Dragendorff geboren und starb am 29. Januar 1941 in Freiburg im Breisgau. Er studierte in Dorpat, Berlin und dann Bonn unter anderem bei Georg Loeschke, wo er 1894 mit einer Dissertation zu römischer Keramik („De vasculis Romanorum rubris capita selecta“) promoviert wurde. 1896 in deutscher Fassung in den Bonner Jahrbüchern abgedruckt, ist diese Arbeit bis heute maßgeblich für die Benennung und Klassifikation römischer Terra Sigillata.
Dragendorff wurde gleich zweimal mit dem Reisestipendium des Kaiserlich Deutschen Archäologischen Instituts ausgezeichnet. So konnte er zwischen den Jahren 1895 und 1897 Ägypten, Südrussland, Italien und Griechenland erkunden. Mit nur 28 Jahren wurde er 1898 außerordentlicher Professor für Klassische Archäologie an der Universität Basel. Mit Gründung der Römisch-Germanischen Kommission 1901/1902 zog er nach Frankfurt am Main, um eine Position als ihr erster Direktor aufzunehmen. In diesem Jahr wurde er auch ordentliches Mitglied des heutigen Deutschen Archäologischen Instituts, dem er von 1911 bis 1922 in Berlin als Generalsekretär vorstand. Von 1922 bis 1936 war er Professor an der Universität Freiburg. Nach Kriegsausbruch übernahm er von 1940 bis zu seinem Tod 1941 erneut die Leitung der Römisch-Germanischen Kommission in Frankfurt am Main, diesmal kommissarisch.
Als Gründungsdirektor der RGK hatte Dragendorff die große Aufgabe, die lokalen und regionalen Forschungen der Museen sowie der Altertums- und Heimatvereine zu vernetzen, ohne deren Interessen zu verletzen. Mit seinem von Zeitgenossen beschriebenen zurückhaltenden, vermittelnden und hilfsbereiten Wesen gelang es ihm, verschiedensten Institutionen und Personen zusammenzubringen und damit die oft kleinräumige und nicht selten regional zersplitterte archäologische Forschung großräumig zu vernetzen. Die RGK stellte sich dabei anfangs vor allem als forschungsfördernde Institution dar, die weniger eigene Projekte leitete, als vielmehr Vorhaben lokaler Vereine und Museen finanziell unterstützte.
In den ersten Jahren seines Amtes arbeitete Hans Dragendorff ohne Mitarbeiter oder Assistenten von seiner Frankfurter Privatwohnung aus. Seine Aufgaben bestanden größtenteils darin, in Vorträgen für die RGK als überregionale Institution zu werben, die Arbeiten am Römerlager in Haltern voranzubringen und, nach dem Tod Felix Hettners (1851–1902), die Ausgrabungen in Trier zu beaufsichtigen. Nachdem die Kommission durch die Ernennung ihrer Mitglieder 1904 ihre Arbeit in vollem Umfang aufnehmen konnte, wurden unter der Leitung Hans Dragendorffs in besonderem Maße die Erforschung prähistorischer Wallanlagen sowie die Untersuchung augusteischer Militärlager in der Wetterau und ganz besonders im Lippegebiet gefördert. Durch seine intensiven Kontakte zu ausländischen Wissenschaftlern, besonders in den Niederlanden, Frankreich, der Schweiz und Österreich, stellte er die RGK auch international auf. 1904 rief Hans Dragendorff den „Bericht der Römisch-Germanischen Kommission“ ins Leben, ein neues Publikationsorgans mit dem Zweck, über die Arbeiten der Kommission zu berichten, einen Überblick über neue Literatur und die wichtigsten Funde des Jahres zu geben und den Stand der Forschungen zu aktuellen Fragen der Vor- und Frühgeschichte in Deutschland und den Nachbarländern zu erläutern.
Nach seiner Berufung zum Generalsekretär des Kaiserlich Deutschen Archäologischen Instituts im Jahr 1911 wurde Dragendorff immer mehr zum Wissenschaftsorganisator. Er führte das Institut erfolgreich durch die schwere Zeit des Ersten Weltkriegs, als die Abteilungen Athen und Rom um ihre Existenz zu kämpfen hatten. Nach Kriegsende setzte er sich in langwierigen Verhandlungen erfolgreich für den Erhalt dieser Abteilungen ein. Seine aktive Zeit am Deutschen Archäologischen Institut endete vorerst 1922, als er einem Ruf an die Universität Freiburg auf den Lehrstuhl für Klassische Archäologie folgte, wo er unter anderem als Rektor und Dekan wirkte.
Dragendorff stand der RGK und dem Deutschen Archäologischen Institut immer wieder mit Rat und Tat zur Seite. So beriet er die ihm nachfolgenden Direktoren, wirkte als Vermittler in schwierigen Verhandlungen, unterstützte die RGK bei Forschungskooperationen, gab Ratschläge und Einschätzungen zu Publikationsvorhaben, Grabungsprojekten und Personalia.
Hans Dragendorff prägte maßgeblich die Ausrichtung der RGK und der vor- und frühgeschichtlichen Forschung im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts. Am 15. Oktober 2020 feiern wir seinen 150. Geburtstag.
Neuzugang im Archiv der RGK: Nachlass Dragendorff
Im Sommer dieses Jahres hat der Enkel Hans Dragendorffs, Jürgen Schwalm, dem Archiv der RGK eine umfangreiche, sehr gut sortierte und dokumentierte Sammlung von Briefen, Fotografien, Urkunden, und Publikationen seines Großvaters überlassen. Die Sammlung wurde zum Teil von der Tochter Dragendorffs begonnen und enthält neben Originaldokumenten und biografischen Informationen zu Hans Dragendorff auch Archivalien und Zusammenstellungen zu seinem Vater, dem Pharmazeuten Georg Dragendorff sowie die Ergebnisse genealogischer Forschungen zur Familie Dragendorff. Die Unterlagen sind angereichert mit Zusatzinformationen – seien es persönliche Kommentare oder Sekundärquellen – zu Orten und Personen, die im Umfeld der Familie Dragendorff eine Rolle gespielt haben. Die Dokumente beinhalten zahlreiche neue Informationen über Hans Dragendorff, die die zukünftigen wissenschschaftsgeschichtlichen und biographischen Forschungen zu seiner Person bereichern werden.
Propylaeum-VITAE: Vernetzte Akteure der Archäologie
Weitere Informationen zu und über Hans Dragendorff und seine Kolleg*innen enthält das neue biographische Informationssystem Propylaeum-VITAE. Hier gibt es Daten zu Personen, die durch ihre Leistungen in der Archäologie und in den Altertumswissenschaften hervorgetreten sind. Im Unterschied zu gedruckten biographischen Lexika ist Propylaeum-VITAE dynamisch gestaltet und wird online kontinuierlich fortgeschrieben. Auch die Signaturen von Archivalien sind hier verlinkt, sodass über das Informationssystem eine Recherche zum Archivbestand mehrerer Institutionen ermöglicht wird. In der Open-Access-Datenbank werden die Akteure der Wissenschaft vorgestellt und ihre Netzwerke abgebildet. Vielfältige nationale und internationale Beziehungen können über gemeinsame Forschungsthemen, Arbeitsgebiete und Wissenschaftstätigkeit sichtbar gemacht werden. So gelangt man, z.B. von der Biographie Hans Dragendorffs per Knopfdruck direkt zu seinen Lehrern und Kollegen Georg Loeschke, Heinrich Nissen und Theodor Wiegand.
Forschungsdatenmanagement: Dragendorffs Typen gehen online
Das wissenschaftliche Werk Hans Dragendorffs ist immer noch international relevant. Für seine Doktorarbeit zur Geschichte der Terra Sigillata bereiste er viele Länder Europas und trug Gefäßformen aller ihm bekannten Produktionsstätten zusammen. Bis dahin gab es nur Einzelstudien zu den Gefäßformen in einer bestimmten Region oder Produktionsstätte. Er ordnete die Gefäße, schuf Übersichtstafeln und gab den verschiedenen Formen Nummern. Noch heute benutzen wir diese Nummern und stellen ihnen seinen Namen in verkürzter oder auch ausgeschriebener Form voran: Drag./Dragendorff 37. Wir verwenden diese Bezeichnungen für Terra Sigillata-Gefäße bei der Ansprache von Funden, sowohl in Publikationen als auch in digitalen Objektsammlungen.
So bringen auch jüngere Klassifikationen von Terra Sigillata-Gefäßen, wie etwa der Conspectus Formarum Terrae Sigillatae Italico Modo Confectae (Bonn 1990), in einer Konkordanz die eigenen Formen mit den von Dragendorff definierten Typen in Zusammenhang. An der RGK wird derzeit an einer online-Datenbank zu der Publikation des Conspectus gearbeitet. Darin werden seine Daten mit den entsprechenden Dragendorff-Formen verlinkt um einen schnelleren Überblick über die Formenbezeichnungen zu ermöglichen (zu weiteren Information über dieses Projekt wird am Freitag, den 16.10.2020, ein Vortag auf der Tagung Archeo.FOSS XIV 2020 stattfinden, der über diesen Link öffentlich angesehen werden kann: https://2020.archeofoss.org/programme).
Ferner dienen die Bezeichnungen der Terra Sigillata-Gefäße durch Dragendorff bereits in verschiedenen Webportalen, wie etwa dem britischen Portable Antiquities Scheme, auf dem vor allem Lesefunde registriert werden können. Abbildung 4 zeigt beispielsweise zwei Datensätze von Scherben von Gefäßen der Form Dragendorff 33 und 37. Somit schuf Dragendorff, ohne es zu ahnen, ideale Bezeichnungen für die Objektansprache, die sich bis heute bewähren und auch in der digitalen Welt als Normdaten Bestand haben werden.
Dragendorff-Jubiläum: vielfältig präsent ohne physische Präsenz
Nicht ein fehlendes Institutsgebäude, wie damals bei Hans Dragendorff, sondern die Covid-19-Pandemie zwingt viele von uns derzeit in das Homeoffice und macht die bei Jubiläen besonders wichtigen Präsenzveranstaltungen nahezu unmöglich. Wir haben uns daher gleich mehrere digitale Formate überlegt, um sich über das Leben und Wirken Hans Dragendorffs auszutauschen:
Symposium
Ursprünglich hatten wir ein Symposium zum 150. Geburtstag Hans Dragendorffs in der RGK geplant, das wir aufgrund der während seines Geburtstags stattfindenden Frankfurter Buchmesse und der daraus resultierenden ausgebuchten Hotels in und um Frankfurt vorsorglich auf den 26./27 November 2020 verlegt hatten. Es wird nun digital als Webinar an diesen beiden Tagen stattfinden. Wir freuen uns, dass wir alle Referent*innen auch für dieses Format gewinnen konnten und so nun von Madrid über Großbritannien und Deutschland bis in die Schweiz Vortragende virtuell begrüßen dürfen. Die Veranstaltung ist offen für Besucher! Bei Interesse an Forschungs- und Wissenschaftsgeschichte zu Hans Dragendorff, Wissenschaftlernetzwerken des frühen 20. Jhs., der Fundgattung Terra Sigillata und zu aktuellen Themen wie Digitalisierung und Forschungsdatenmanagement haben, bitten wir um Anmeldung unter https://zoom.us/webinar/register/WN_AJvc8iKkRvqvy6RcBXIFqw, damit Sie dann den notwendigen Videokonferenzzugang erhalten.
Broschüre
Anlässlich des 150. Geburtstages Hans Dragendorffs haben wir eine Broschüre über sein wissenschaftliches Leben und Wirken zusammengestellt, in die auch einige bislang unbekannte Fotografien und Dokumente aus dem Vorlass seines Enkels eingeflossen sind. Die Broschüre ist ab heute als PDF abrufbar, demnächst auch in gedruckter Form erhältlich.
Film
Zudem haben wir einen animierten Kurzfilm, in dem das Wirken und die Forschung Hans Dragendorffs thematisiert sind, produzieren lassen. Der Film lässt sich auf dem youtube-Kanal des Deutschen Archäologischen Instituts unter folgendem Link abrufen: https://youtu.be/HVqYCWn76Uo.