Etwa 200 km östlich der türkischen Hauptstadt Ankara liegt unmittelbar bei der Kleinstadt Boğazkale (früher Boğazköy) die bronzezeitliche Stadtruine von Hattuscha, Hauptstadt des hethitischen Großreichs (UNESCO Weltkulturerbe und UNESCO Memory of the World). Dieses beherrschte im 2. Jahrtausend v. Chr. weite Teile Westasiens und bildete einen mächtigen Gegenspieler Ägyptens, Babyloniens und Assyriens. Seit 116 Jahren wird Hattuscha mit Genehmigung des Ministeriums für Kultur und Tourismus der Republik Türkei durch ein internationales Team von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedenster Fachrichtungen unter Leitung von Prof. Dr. Andreas Schachner (seit 2006) vom Deutschen Archäologischen Institut in Istanbul systematisch erforscht; so auch dieses Jahr. Dabei stehen Ausgrabungen, Fundbearbeitungen und Restaurierungen im Fokus des Arbeitsprogramms. Aber Hattuscha hält auch immer wieder unerwartete Überraschungen bereit.
So ungewöhnlich ein Regentag Anfang August in Zentralanatolien ist, so unverhofft war die Entdeckung, die Dr. Bülent Genç, Mitglied des Grabungsteams und Dozent für Archäologie an der Artuklu Universität in Mardin, bei Yerkapı (zu Deutsch: das Tor im Boden), einem seit jeher bekannten Monument in der Oberstadt, gemacht hat. Die künstlich aufgeschüttete bis zu 40 m hohe und fast 250 m lange pyramidal anmutenden Anlage liegt gleichsam als Krone der Stadt auf deren höchstem Punkt. Während die über diesen Wall laufende Stadtmauer ein ursprünglich mit 4 Sphingen geschmücktes Tor aufweist, verläuft genau unter diesem Tor hindurch ein unterirdischer Tunnel ‒ eine so genannte Poterne. Das aufwendige, weithin sichtbare Bauwerk, dessen hethitischen Namen wir bisher nicht kennen, diente nicht der Verteidigung, sondern war höchstwahrscheinlich Teil kultischer Inszenierungen, die von den nördlich in der Stadt liegenden Tempeln ausgingen. Im Gegensatz zu allen anderen Monumenten und Gebäuden in der Stadt war Yerkapı aber immer sichtbar und der Tunnel zumindest teilweise begehbar. Bis heute ist es einer der wichtigsten Besucherpunkte in der Stadt.
In diesem nicht ausgeleuchteten Tunnel bemerkte Bülent Genç Zeichen, die mit rotbrauner Wurzelfarbe auf die grob bearbeiteten Steine der Wände gemalt worden waren. Bei unseren noch andauernden Untersuchungen haben wir in der Poterne von Yerkapı Spuren von mindestens 249 Zeichen in anatolischen Hieroglyphen (Bildzeichen) auf den Steinblöcken entdeckt. Zwar sind einige von ihnen zu stark erodiert, um lesbar zu sein, aber die meisten sind gut erhalten und klar zu entziffern.
In der hethitischen Großreichszeit finden sich anatolische Hieroglyphen regelmäßig auf Felsmonumenten oder Siegeln, entweder eingraviert oder als Relief. Die in Yerkapı entdeckten Zeichen wurden jedoch mit Farbe auf die Steinblöcke geschrieben. Bisher waren gemalte Inschriften nur aus Kayalıpınar (Sivas) und Suratkaya (Muğla) bekannt. Dort ist die Zahl der gefundenen Zeichen jedoch äußerst gering. Durch die Funde von Yerkapı wird nun immer deutlicher, dass die anatolische Hieroglyphenschrift in der Gesellschaft des 2. Jahrtausends v. Chr. viel weiter verbreitet war, als dies bisher angenommen wurde. Durch diese Funde öffnet sich ein völlig neues, unerwartetes Fenster zur Spätbronzezeit.
Um diese einzigartige Entdeckung zu dokumentieren werden die Hieroglyphen zusammen mit dem gesamten Bauwerk in Kooperation mit Kollegen der Universität Federico II – DiSTAR (Neapel; L. Repola und sein Team) dreidimensional digital aufgenommen und modelliert. Nach ersten Auswertungen der Philologen des Grabungsteams (M. Alparslan und M. Marazzi) gibt es in der Poterne von Yerkapı mindestens acht verschiedene Gruppen von Zeichen, die wiederholt werden; so konnte eine der Zeichengruppen bisher 38 Mal identifiziert werden. Es handelt sich offenbar nicht um eine zusammenhängende Inschrift, sondern vielmehr um kurze Notationen im Sinne von Grafitti. Obwohl es für eine abschließende Bewertung noch zu früh ist, gehen wir davon aus, dass Namen von Personen oder Göttern sowie vielleicht die Bezeichnung dieses unterirdischen Wegs in hethitischer Periode genannt sind.
Die Arbeiten finden im Rahmen des insgesamt durch das Deutsche Archäologische Institut (DAI), die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), die Thyssen-Stiftung, die GRH Stiftung und das italienische Aussenministerium geförderten Arbeiten in Boğazköy/Hattuscha statt. Bei der Dokumentation und Auswertung arbeiten Kolleginnen und Kollegen des DAIs, der Universität Istanbul und der Universitäten Federico II und Suor Orsola Benicasa (beide in Neapel) zusammen.
Autor: Andreas Schachner, Leiter Boğazköy-Grabung