Aus dem Schatten des Pergamonaltars: Mensch und Umwelt in der Antike

Mitten in Berlin können die Besucher im Ende 2018 eröffneten Interim des Pergamonmuseums einer Visite des römischen Kaisers Hadrian auf dem Stadtberg der antiken Metropole im Jahr 129 beiwohnen. Höhepunkt des 360°-Panoramas Yadegar Asisis sind aber nicht der Kaiser und sein Gefolge, sondern das Geschehen am Großen Altar, dessen Friese und Statuen nach ihrer Entdeckung 1878 von Bergama an der Westküste der Türkei nach Berlin auf die Museumsinsel gebracht wurden. Beide Orte sind mittlerweile UNESCO-Welterbestätten und verdanken diese Auszeichnung nicht zuletzt dem Großen Altar, dessen Skulpturenschmuck als Höhepunkt hellenistischen Kunstschaffens gilt. So lag es nahe, das Berliner Panorama auf dieses Monument zu fokussieren, wo die Opferhandlungen nun als Massenspektakel mit viel Blut, Rauch und Glut inszeniert sind – ganz anders als noch in der ersten Version des Panoramas von 2011, das an die sublimierte Antike im Stil des niederländischen Malers Lawrence Alma-Tademas erinnerte. Die Belebung des Altars entspricht nicht nur dem populären Bild einer prallen, schmutzigen und gewalttätigen Antike, wie es die britische Fernsehserie „Rome“ (2005-7) besonders eindrücklich inszeniert hat. Das Sterben der Opfertiere und das qualmende Feuer vor einer landschaftlichen Kulisse, die ihre Gestaltung und Nutzung durch den Menschen nicht verleugnet, macht das Panorama auch zum Botschafter eines aktuellen wissenschaftlichen Anliegens: Der Berücksichtigung des Verhältnisses von Mensch und Umwelt bei Betrachtung der Antike. Dabei geht es zum einen um alltägliche Vorgänge wie die Nutzung natürlicher Ressourcen und die Veränderungen der Landschaft, die dadurch hervorgerufen wurden. Zwar gab es in der Antike noch keinen Klimawandel infolge von CO2 aus Opferfeuern oder anderen Verbrennungsvorgängen. Doch konnten großflächige Eingriffe in den Naturraum bei Abholzung der Wälder periodische Schwankungen des Klimas verstärken und das Niederschlagsgeschehen auf regionaler Ebene beeinflussen. Damit verbunden ist die Frage nach der Wahrnehmung der Natur durch die antiken Menschen, wie sie in der Tötung von Opfertieren, der Verehrung von Naturmalen in der Stadt (in Asisis Panorama ebenfalls gezeigt) oder in der architektonischen Überformung einer spektakulären Felsformation wie der des Stadtbergs von Pergamon zum Ausdruck kam. Ziel ist es, Phänomene der Ökologie stärker in unser Verständnis der alten Welt einzubeziehen und mit den besser erforschten sozialen, politischen, ökonomischen und religiösen Aspekten zu verknüpfen.

Der ecological turn in den Altertumswissenschaften hat in Zeiten zivilisationsbedingten Klimawandels wesentliche Impulse durch die moderne Klimaforschung erfahren. Kürzlich meldete eine Forschergruppe um den Hydrologen Joe Mcconnell und den Archäologen Andrew Wilson, dass es ihr gelungen sei, Ablagerungen von Bleiemissionen in Bohrkernen aus grönländischem Eis mit historischen Ereignissen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Europa zwischen 1100 v. Chr. und 800 n. Chr. zu verbinden − darunter den Rückgang in der Produktivität, der durch die so genannte Antoninische Pest 165-180 n. Chr. ausgelöst worden sein soll.[1] Aus Alpengletschern und Seen, Baumstämmen oder Stalaktiten werden mehr und mehr Daten zum Paläoklima gewonnen, die ein immer dichteres, aber bei weitem noch nicht vollständiges und widerspruchsfreies Bild der Klimaentwicklung in der Antike ergeben. Hinzu kommen neue Erkenntnisse der Paläogenetik, die ihre Methoden zur Rekonstruktion historischer DNA aus organischen Materialien − vor allem Knochen und Zähnen − laufend verbessert. Sie betreffen die Entwicklung des Menschen und seiner Nutztiere, seine Wanderungsbewegungen sowie die Entstehung und Verbreitung von Krankheiten wie z. B. Pocken, Tuberkulose und Pest.

Auf dieser Basis hat der amerikanische Althistoriker Kyle Harper in seinem 2017 erschienenen Buch „The Fate of Rome“ ein Szenario entworfen, in dem Aufstieg und Niedergang des Römischen Reichs kausal mit der Entwicklung des Klimas und der Entstehung und Verbreitung von Epidemien verbunden werden.[2] Auf ein „glückliches Zeitalter“ gleichmäßig warmen und feuchten Klimas im Mittelmeerraum zwischen etwa 200 v. Chr. bis 150 n. Chr. folgte eine wesentlich instabilere Phase, die Wanderungsbewegungen im Umfeld des Imperium Romanum wie zum Beispiel der Hunnen ausgelöst haben soll. Diese Entwicklung gipfelte nach Harper in einer kleinen Eiszeit zwischen ca. 450 und 700, in der sich die Lebensbedingungen nochmals verschlechterten. In die Zeit nach 150 fielen zugleich mehrere schwere Seuchen wie die bereits erwähnte Pockenepidemie unter Mark Aurel, die `Cyprianische Pest´ (Ebola?) im 3. Jahrhundert und die `Justinianische Pest´ im 6. Jahrhundert. Ihre Verbreitung wurde erleichtert durch das enge Zusammenleben in den Städten, deren dichter Vernetzung im Mittelmeerraum und durch die weitreichenden Verbindungen des Imperiums bis nach Zentralasien, Ostafrika und in den Indischen Ozean. Das wiederholte Zusammentreffen von Seuchen und Versorgungskrisen hätte die Widerstandsfähigkeit des Römischen Reiches und seiner Strukturen trotz Phasen der Anpassung und Erholung letztendlich gebrochen.

Die Studie Harpers, die sich über weite Passagen wie ein apokalyptischer Thriller liest, ist nicht unwidersprochen geblieben. In  mehreren Rezensionen kritisiert eine Forschergruppe um den Historiker und Umweltexperten John Haldon, dass Harper die Umwelt in seinem forcierten Narrativ zum alles dominierenden Faktor erhebe und die Handlungsmöglichkeiten von Staat und Gesellschaft demgegenüber vernachlässige.[3] Konsens herrscht hingegen über die grundsätzliche Bedeutung von Umweltfaktoren für das Verständnis historischer Entwicklungen. Voraussetzung dafür sei eine detaillierte Analyse der Kausalitäten, die komplexen Prozessen wie der Transformation römischer Herrschaft in der Spätantike zugrunde lagen. Der Weg dorthin führe über regionale Fallstudien durch interdisziplinäre geistes- und naturwissenschaftliche Teams – und damit zurück nach Pergamon.

Ende 2018 hat die Deutsche Forschungsgemeinschaft das auf maximal zwölf Jahre angelegte Projekt TransPergMikro bewilligt, in dem Archäologen und Althistoriker, Geographen und Bauforscher zusammen mit weiteren natur- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen die Transformation Pergamons und seiner Landschaft zwischen 300 v. Chr. und 300 n. Chr. untersuchen werden. Die antike Metropole an der Schnittstelle zwischen Anatolien und Ägäis ist dafür besonders geeignet: Seit 140 Jahren arbeiten dort deutsche, türkische und internationale Wissenschaftler mit Genehmigung des Kultur- und Tourismusministeriums der Türkei und haben gemeinsam die Grundlagen für den neuen Forschungsansatz gelegt. Die Besiedlung Pergamons begann im 2. Jahrtausend v. Chr., doch reichen die Spuren im Umland der Stadt sogar bis in das 7. Jahrtausend zurück. Die umfangreichsten und aussagekräftigsten Befunde stehen aber für die Epochen des Hellenismus und der römischen Kaiserzeit zur Verfügung, auf die sich das neue Projekt konzentriert. Ausgangspunkt ist die Frage, welche Wechselwirkungen zwischen tiefgreifendem urbanem Wandel in Pergamon und Veränderungen in der Mikroregion bestanden. Die Verdoppelung des Stadtgebietes seit dem späten 1. Jahrhundert n. Chr. und ein monumentales Bauprogramm mit Theater, Amphitheater und Stadion sowie Tempeln und Thermen dürften den Druck auf den Naturraum als Nahrungsmittellieferant und Quelle von Rohstoffen für das Bauwesen enorm erhöht haben. Demgegenüber haben Untersuchungen der vergangenen Jahre gezeigt, dass die pergamenische Landschaft seit Ende der hellenistischen Königszeit im späten 2. Jahrhundert v. Chr. zunächst von Siedlungskonzentration und Entmilitarisierung, später dann von der Einrichtung typisch römischer Freizeit bzw. Wellness-Elementen wie Thermalbädern und Meervillen gekennzeichnet war. Um ein überzeugendes Bild der komplexen Beziehungen zwischen Städten, ländlichen Siedlungen und der Landschaft im Umfeld Pergamons zeichnen zu können, müssen unterschiedliche Bereiche wie Ressourcennutzung und dynamische Veränderung des Naturraums, Produktion und Konsum, Lebensweise und Gesundheit der Bewohner, Architektur und Bauwesen, Gestaltung und Wahrnehmung von Lebensräumen sowie die administrativen Rahmenverhältnisse des Wirtschaftslebens untersucht werden. Naturwissenschaftliche Methoden, darunter die Paläogenetik, werden dabei eine wichtige Rolle spielen und könnten unter anderem Auskunft geben über den Einfluss der großen kaiserzeitlichen Pandemien auf die Bevölkerungsentwicklung im Untersuchungsgebiet. So ist der Arzt und Schriftsteller Galen aus Pergamon, der im 2. Jahrhundert seine Karriere mit der Behandlung von Gladiatoren im Amphitheater der Stadt begann und später zum Leibarzt des Kaisers Commodus wurde, der Kronzeuge Harpers für dessen Interpretation der `Antoninischen Pest´. Entscheidend werden aber nicht spektakuläre Einzelbeobachtungen sein, sondern ein möglichst detailliertes Bild der Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt, das in Zukunft zum Baustein einer sozialen Umweltgeschichte der Antike werden könnte.

In dieses Bild gehört auch der Große Altar, an dem nicht nur geschlachtet und verbrannt wurde. Die Darstellung des pergamenischen Gründungsmythos im Telephos-Fries stellte gezielte Bezüge zu Orten in der Umgebung her, die vom Altar aus sichtbar waren. Auf diese Weise trugen Mythenbilder zur Sinnstiftung im Verhältnis von Stadt und Landschaft bei. Solches Wissen aus den traditionellen Forschungsfeldern der Altertumswissenschaften gilt es in die neuen Forschungsansätze des ecological turn zu integrieren – so wie es auch die Kritiker von Harpers „Fate of Rome“ fordern.

[1] J. McConnell − A. I. Wilson – A. Stohl – M. M. Arienzo – N. J. Chellman – S. Eckhardt – E. M. Thompson – A. M. Pollard – J. P. Steffensen, Lead Pollution Recorded in Greenland Ice Indicates European Emissions Tracked Plagues, Wars, and Imperial Expansion during Antiquity. PNAS, 115(22), 5726–5731. <https://www.pnas.org/content/115/22/5726>

[2] K. Harper, The Fate of Rome. Climate, Disease, and the End of an Empire (Princeton 2017)

[3] J. Haldon – H. Elton – S. R. Huebner – A. Izdebski – L. Mordechai – T. P. Newfield, Plagues, Climate Change, and the End of an Empire: A Response to Kyle Harper’s The Fate of Rome (1): Climate, History Compass. 16/12, 2018, 1–13; e12508. <https://doi.org/10.1111/hic3.12508>; dies., Plagues, Climate Change, and the End of an Empire: A Response to Kyle Harper’s The Fate of Rome (2): Climate, History Compass.2018; e12506. <https://doi.org/10.1111/hic3.12506>; dies., Plagues, Climate Change, and the End of an Empire: A Response to Kyle Harper’s The Fate of Rome (3): Climate, History Compass.2018; e12507. <https://doi.org/10.1111/hic3.12507>