Hirse – das Korn der chinesischen Zivilisation
Wo es domestiziert wurde, wann, wie es sich in Jahrtausendschritten ausbreitete und auf das Bevölkerungswachstum auswirkte.
Hirse ist ein Getreide, das in Europa seit der späten Bronzezeit und vor allem im Mittelalter als „Brot des armen Mannes“ das Volk ernährte. Weizen, Gerste und Kartoffel verdrängten sie im vergangenen Jahrhundert vom Tisch in den Vogelfutternapf. Weil ihr das Klebereiweiß Gluten fehlt, eignet sie sich schlecht zum Backen, doch sie ist reich an Eisen und Vitamin B6 und gewinnt heute zunehmend an Popularität bei Leuten mit Gluten-Intoleranz.
Kaum jemand weiß jedoch, dass die beiden am weitesten verbreiteten Arten – Rispenhirse (Panicum miliaceum) und Kolbenhirse (Setaria italica) – in China domestiziert wurden und so wie Weizen und Gerste in Mesopotamien die Voraussetzung für die ersten Staatsbildungen waren.
Von dort übernahmen Gesellschaften nach und nach auf dem gesamten eurasischen Kontinent den Hirseanbau. Hirse gedeiht auch auf armen Böden, bei Trockenheit und anderen extremen Wetterbedingungen; sie hat eine kurze Vegetationsperiode und erfordert relativ wenig Aufwand für Anbau, Ernte und Verarbeitung zu sättigenden Gerichten. In marktwirtschaftlicher Hinsicht bietet eine Hirseernte also ein optimales Verhältnis von Aufwand und Nutzen. Seit dem 1. Jahrtausend v. Chr. wurde Hirse in Fruchtfolge mit Winterweizen auf ein und demselben Feld angebaut – ein wichtiger Faktor, um Erträge pro Fläche zu erhöhen und das Risiko von Ernteausfällen durch Witterung oder Schädlinge zu minimieren.
Trotz ihrer Bedeutung als staatstragende Kulturpflanze ist ihre Geschichte erstaunlich wenig erforscht: Wo und wann wurde sie domestiziert, d.h. die Wildpflanze genetisch so verändert, dass sie sich für den Anbau und zuverlässige Ernte eignete? Wie lange dauerte ihre Verbreitung vom Ursprungsgebiet in alle Richtungen und welche Wege nahm sie? Welche Wirkung hatte sie auf demographische Entwicklungen? Die Informationen sind widersprüchlich, weil sie zumeist aus indirekten Nachweisen stammen.
Eine aktuelle Studie von C. Leipe, T. Long, E. A. Sergusheva, M. Wagner und P. E. Tarasov legt einen neuen Datensatz von 184 direkt datierten Hirsefunden aus Ostasien vor und bietet auf der Grundlage einer Bayes-Modellierung aller Daten überraschende Antworten.
Domestiziert wurde Hirse ca. 5800 Jahre v. Chr. von den Bewohnern der Schwemmebene des Gelben und des Liao Flusses um die Bucht von Bohai herum. Also nicht am Mittellauf der des Gelben Flusses, der sogenannten „Wiege der chinesischen Zivilisation“. Die Gemeinschaften dort übernahmen sie erst etwa tausend Jahre später um 4600 v. Chr. Nach einem weiteren Jahrtausendschritt wurde sie um 3200 v. Chr. auch am Oberlauf des Gelben Flusses und um 3400 v. Chr. am Oberlauf des Yangzi angebaut.
Nächste Station Richtung Westen war nach heutiger archäologischer Fundlage Südost-Kasachstan um 2300 v. Chr. und nicht Xinjiang, was näher liegen würde. Dort erscheint domestizierte Hirse erst um 1900 v. Chr. und zwar zusammen mit Weizen und Gerste sowie Schaf/Ziege und Rind, mitgebracht von einwandernden Gemeinschaften aus Kasachstan, die in der Andronovo-Kultur ihren Ursprung haben oder mit ihr verwandt sind. Da war Hirse bereits Teil eines komplexeren, in Zentralasien ausgebildeten Wirtschaftssystems, das west- und ostasiatische Haustiere und Nutzpflanzen vereinigt hatte.
Der Hirseanbau wurde nach längerem Desinteresse auch östlich und nördlich des Ursprungsgebiets angenommen: um 3700 v. Chr. auf der koreanischen Halbinsel und um 2900 v. Chr. im fruchtbaren Khanka-Ussuri-Gebiet im russischen Fernen Osten. Um 1000 v. Chr. brachten Einwanderer von Korea aus Hirse und Reis zusammen mit Bronze und Eisen auf die japanischen Inseln Kyushu und Honshu. Mit ihnen begann in Japan bäuerliches Leben.
Was bedeuten diese Daten des Hirse-Feldbaus für die Bevölkerungsentwicklung in China?
Verglichen mit einer Statistik von Fundplatzzahlen, die zur qualitativen Abschätzung der Bevölkerungsgröße herangezogen wird, zeigen sich folgende Trends: exponentieller Anstieg von 6400 bis 1900 v. Chr., drastischer Abfall zwischen 1900 und 1600 v. Chr. und Wiederanstieg bis zur historischen Zeit. Für die beiden Anstiege der Bevölkerungszahlen und den Abbruch dazwischen liefern die Autoren Erklärungsansätze. Das erste Bevölkerungswachstum nahm umso mehr an Fahrt auf, je größer die Anbaufläche wurde. Am Ende war Nordchina die bevölkerungsreichste Region der Welt, erste massiv befestigte Siedlungszentren, Herrscherresidenzen und Ritualzentren entstanden. Der Höhepunkt war nach der späteren chinesische Geschichtsschreibung und Mythologie die Regierungszeit der ersten Königsdynastie Xia am Mittellauf des Gelben Flusses, mit der die chinesische Zivilisation begonnen haben soll, die aber archäologisch noch nicht zweifelsfrei nachgewiesen wurde. Vor allem war es das Zeitalter der Kulturheroen. Einer der mythischen Helden war Houji – Herr oder Gott der Hirse, dem die Unterweisung des Volkes im Anbau des Getreides zugeschrieben wird und den die dritte Dynastie Zhou (ab 1045 v. Chr.) als ihren mythischen Stammvater ansah.
Die Ballungsgebiete am mittleren und unteren Gelben Fluss und Yangzi leerten sich nach 1900 v. Chr., die Residenzen wurden verlassen. Welche Gründe dieser Abbruch hatte, ist eine der spannendsten aktuellen Forschungsfragen, zu der es bislang verschiedene Hypothesen gibt. Mit Sicherheit hatte die Einwanderung von Gruppen aus Norden in den vorausgehenden Jahrhunderten damit zu tun, die das westasiatische Wirtschaftssystem mit Weizen, Gerste, Schaf/Ziege und Rind sowie Bronzetechnologie brachten. Nichts davon gab es vorher in China, aber alles war am zweiten ökonomischen und demographischen Aufschwung beteiligt.
Auch in Nordchina hat die Hirse den Wettbewerb um Platz Eins der Grundnahrungsmittel an Weizen verloren, doch wie überall in der Welt könnte sich das bald ändern. Als strategische Kulturpflanze zur Sicherung unserer Ernährung in Zeiten von globaler Klimaerwärmung und wachsender Weltbevölkerung steigt das Ansehen von Rispenhirse wieder.
Autoren: Mayke Wagner, Pavel Tarasov und Christian Leipe
C. Leipe, T. Long, E. A. Sergusheva, M. Wagner and P. E. Tarasov: Discontinuous spread of millet agriculture in eastern Asia and prehistoric population dynamics
Science Advances 25 Sep 2019: Vol. 5, no. 9, eaax6225, DOI: 10.1126/sciadv.aax6225
https://advances.sciencemag.org/content/5/9/eaax6225.abstract