Ulrich Mania & Felix Pirson
Die Siedlungsgeschichte und städtebauliche Entwicklung Pergamons sind durch mehrere Phasen der Ausdehnung, aber auch der Schrumpfung der Stadt gekennzeichnet, die im Laufe der Zeit ihren Charakter wiederholt verändert hat. Nach einer etwa 250-jährigen Geschichte als befestigte hellenistische Residenzstadt veränderte Pergamon erst in der römischen Kaiserzeit grundsätzlich sein Antlitz. Im Verlauf des 1. Jh. n. Chr. dehnte sich die Stadt über den alten Befestigungsring hinaus auf dem Schwemmfächer des Selinus aus (Abb. 1). Einige Großbauten dieser Stadterweiterung – das Amphitheater, das römische Theater und das Heiligtum der Roten Halle – sind bereits gut erforscht. Ausschnitthafte Kenntnisse liegen außerdem über die Nekropolen im Umfeld der Unterstadt vor, die vor allem durch Notgrabungen des Museums Bergama im Zuge von Baumaßnahmen in der modernen Stadt Bergama durchgeführt wurden. Von anderen Bauten der römischen Unterstadt, wie dem Stadion, den Thermen oder dem Straßennetz kennen wir dagegen allenfalls die Lage und einige wenige Details. Diese Informationen sowie die Ergebnisse des neuen Surveys im Umfeld des Asklepieions ermöglichen es, die Grenzen der römisch-kaiserzeitlichen Unterstadt immer präziser zu rekonstruieren. Dabei darf nicht vergessen werden, dass auch auf dem Stadtberg das Leben in der römischen Kaiserzeit weiterging und zahlreiche kleinere und größere Bauprojekte realisiert wurden. Dafür sprechen nicht nur die Errichtung des Heiligtums für Trajan auf der Akropolis zu Beginn des 2. Jhs., sondern auch die intensiven flavischen Umbauten am Gymnasion und die Befunde aus den Grabungen in der sogenannten Wohnstadt am mittleren Stadtberg, die zeigen, dass hier auch in der römischen Kaiserzeit intensiv gesiedelt wurde.
In Bezug auf Wohnbauten und Anlagen für Handwerk und Handel sowie die Infrastruktur der Unterstadt war unser Wissen bislang aber doch noch sehr gering. Dasselbe gilt für die Siedlungsgeschichte Pergamons in spätantiker und frühbyzantinischer Zeit. Vor diesem Hintergrund stellen die Ergebnisse der archäologischen Arbeiten 2021 und 2022 eine wesentliche Bereicherung dar.
Die sogenannte Spätrömische Mauer oder Gotenmauer ist die erste nachhellenistische Stadtbefestigung Pergamons und markiert somit einen bedeutenden Wendepunkt in der Siedlungsgeschichte der Stadt. Ihre Datierung war lange umstritten und konnte lediglich durch die Verknüpfung des Bauwerks mit historischen Ereignissen bestimmt werden. Aus diesem Grund wurden in der Kampagne 2021 mehrere Sondagen an der Mauer und in ihrer Füllung durchgeführt, um eine zeitliche Einordnung mithilfe von stratifiziertem Fundmaterial vornehmen zu können (Abb. 2). Es gilt nun als sicher, dass die Befestigung, die den Stadtberg in etwa entlang des frühesten hellenistischen Verteidigungsringes umschließt und damit große Teile des Stadtberges und die gesamte Unterstadt außerhalb der Verteidigungslinie liegen lässt, frühestens im letzten Drittel des 3. Jhs. errichtet wurde. Da im relativ umfangreichen Fundmaterial jüngere Artefakte fehlen, ist eine deutlich spätere Entstehung zumindest äußerst unwahrscheinlich.
Obwohl die Mauer fast ausschließlich aus Spolien besteht, wurden nahezu keine marmornen Bauteile verwendet. Daraus lässt sich schließen, dass für die Mauer zwar das Material aufgegebener Wohnbauten – vermutlich vornehmlich von außerhalb des neuen Mauerrings – verwendet wurde, die öffentlichen Gebäude zu ihrer Errichtungszeit aber noch intakt waren. Dies deckt sich auch mit den Befunden aus der so genannten Wohnstadtgrabung innerhalb der Mauer, in der die Bebauungsdichte im Laufe des 3. Jhs. zwar abgenommen hat, öffentliche Bauten wie Thermen, die Wasserversorgung und Läden und Werkstätten zur Versorgung der Bevölkerung aber auch noch im 4. Jh. in Betrieb waren.
Während die Errichtung der spätrömischen Verteidigungsanlage auf dem Stadtberg auf einen temporären Rückgang der Bevölkerung am Ende der römischen Kaiserzeit, der sich auch in den 14C-datierten Skelettfunden aus Pergamon abzuzeichnen scheint, hindeutet, bedeutete sie mittelfristig noch nicht das Ende der der unbefestigten Unterstadt. So wurde das Heiligtum der Roten Halle noch im 5. Jh. n. Chr. in die größte Kirche Pergamons umgewandelt. Dazu wurde der Hauptbau des Heiligtums nach einem schweren Brand zu einer dreischiffigen Basilika mit polygonal ummantelter Apsis umgebaut, bei der es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um die Bischofskirche Pergamons handelte.
Ausgrabungen in zuvor unerforschtem Gebiet östlich und südöstlich der Roten Halle liefern jetzt weitere Indizien für ein aktives städtisches Leben im spätrömischen und frühbyzantinischen Pergamon. Im Jahr 2021 erhielt die Pergamongrabung die Möglichkeit, südöstlich der Roten Halle und nördlich des Hügels Türbe Mezarlık ein Peristylgebäude mit Fußbodenmosaiken zu untersuchen, das bei einer Notgrabung des Museums Bergama teilweise freigelegt worden war. In diesem Jahr war es nun möglich, die Ausdehnung des Gebäudes und seine räumliche Gliederung weiter zu untersuchen (Abb. 3. 4). Dabei konnten nicht nur an zwei weiteren Seiten die Gebäudegrenzen bestimmt, sondern auch ein mutmaßliches Bad und weitere Räume mit Mosaikböden festgestellt werden. Sondagen in bauzeitlichen Schichten legen eine Datierung frühestens in das 4. Jh. nahe. Die Größe des Gebäudes von mehr als 40 m Länge und die zahlreichen mit Mosaikböden ausgestatteten Räume weisen darauf hin, dass es sich entweder um ein Wohnhaus der städtischen Elite oder um die Residenz eines Würdenträgers handelte.
Abb. 4 (rechts) Mosaikhaus, Luftbild
Unweit westlich des Peristylgebäudes, auf der nördlichen Seite des Türbe Mezarlık sind bei Ausgrabungen, die in Vorbereitung von laufenden Maßnahmen zur Befestigung und Arrnodierung von Flusslauf und Uferbereich des Bergama Çayı (Selinus) durchgeführt wurden, eine Reihe kleinerer Raumstrukturen, zahlreiche Kanäle und Tonrohrleitungen sowie eine in den Felsen gehauene Straße zutage getreten (Abb. 5. 6.). Auch diese wichtigen Befunde konnten wir dokumentieren. Nach den ersten Erkenntnissen zu urteilen, handelt es sich um spätantike bis frühbyzantinische Werkstätten. Vielleicht dienten sie der Färberei oder Gerberei, die bewusst flussabwärts der Stadt angelegt wurden, um das Wasser erst zu verschmutzen, nachdem es die Stadt passiert hatte. Noch bis in das 20. Jh. hinein waren hier Gerbereien angesiedelt.
Mit diesem neuen Wissen fügen sich gleich mehrere Befunde zum neuen Bild des spätantik-frühbyzantinischen Pergamons zusammen: Die Bauaktivitäten in der Roten Halle, die Errichtung des Peristylhauses und die handwerklichen Aktivitäten entlang des Flusses zeigen, dass sich die Unterstadt Pergamons im 4./5. Jh. kaum im Niedergang befunden haben kann. Weitere archäologische, historische und paläoanthropologische Untersuchungen unter Einbeziehung von neuen Ergebnissen zur Umweltgeschichte werden zeigen, ob sich die Vorstellung einer temporären Krise im späten 3. Jh. bestätigen lässt auf die dann eine erneute Blütezeit im 4.-5. Jh. gefolgt wäre.
Ein Zeugnis für das religiöse Leben dieser Zeit hat eine tönerne Pilgerflasche aus der Ausgrabung im Mosaikhaus geliefert, die den Hl. Georg und vermutlich den Hl. Polykarp, Bischof von Smyrna (Fig. 7), zeigt. Sie stellt eine interessante Bereicherung zum Kult lokaler Märtyrer wie Antipas dar, dem vermutlich die oben erwähnte Kirche in der Roten Halle geweiht war.
Abb. 7 (rechts) Bei der Ausgrabung des Mosaikhauses gefundene Pilgerflasche