Felix Pirson, Bernhard Ludwig, Güler Ateş
In der Antike war das Verhältnis der Menschen zur Natur stark von der Religion geprägt. Naturphänomene wie Blitz und Donner, aber auch die Morgenröte oder das Reifen der Feldfrüchte wurden mit dem Wirken göttlicher Mächte in Verbindung gebracht. An sie wandte man sich mit der Bitte um Segen oder den Schutz vor Unheil durch die als allmächtig empfundenen Naturkräfte.
Ausdruck dieser religiösen Naturverbundenheit sind die zahlreichen Naturheiligtümer, die sich in der antiken Mittelmeerwelt und darüber hinaus erhalten haben. Anders als die großen offiziellen Heiligtümer mit ihren aufwendigen Architekturen, Bildwerken und Inschriften bestehen sie in erster Linie aus einem Naturmal wie einem prominenten Felsen oder Berggipfel, einer Quelle, einer Höhle oder auch einem Hain, das als Wohnort oder Manifestation der Gottheit verehrt wird. In vielen Fällen können auch mehrere Naturphänomene, insbesondere Felsen und Quelle, miteinander kombiniert sein. In den meisten Fällen zeugen Felsabarbeitungen in Form von Nischen, Bänken, Standflächen für Altäre oder Rinnen und Becken für Wasserinstallationen von den Kultplätzen. Daneben sind Konzentrationen von Votivgaben aus Ton, d. h. in erster Linie kleine Götterbilder, Öllampen oder auch Tongeschirr für Festmähler im Rahmen des Kultes wichtige Anzeiger für die Präsenz eines Naturheiligtums.
In der Mikroregion Pergamon waren bislang vier Fels- oder Naturheiligtümer bekannt (Abb. 1), von denen das besonders aussagekräftige Höhlenheiligtum „Ballık Mağarası“ erst 2020 im Rahmen des TransPergMikro Umlandsurveys entdeckt worden war. Aber auch innerhalb des ummauerten Stadtgebietes von Pergamon konnten mehrere Felsheiligtümer nachgewiesen werden. Inner- und außerstädtische Felsheiligtümer weisen zahlreiche Gemeinsamkeiten, aber auch signifikante Unterschiede auf, die sie alle als individuelle, ortsbezogene Schöpfungen mit unmittelbarem Natur- und Landschaftsbezug charakterisieren. Zu den Gemeinsamkeiten eines Großteils der Kultplätze zählt, dass sie untereinander Sichtbezüge aufweisen und auf das Heiligtum von Mamurt Kale in den Bergen südöstlich von Pergamon ausgerichtet sind, das unter dem Gründer der Dynastie der Attaliden Philetairos (281-263 v. Chr.) monumental ausgebaut wurde. In diesem Heiligtum wurde die ursprünglich aus dem zentralanatolischen Phrygien stammende Muttergöttin Meter verehrt, deren Wirkungsmacht in den Bereichen Natur und Fruchtbarkeit lag. Sie war auch in Pergamon außergewöhnlich populär, wo wir ihr in zahllosen Tonfiguren aus den Häusern, aber auch in Gestalt einer lebensgroßen Statue auf der Altarterrasse begegnen. Die meisten der bisher bekannten Felsheiligtümer in der Mikroregion Pergamon, die alle in der unteren westlichen Ebene des Bakır Çay (Kaikos) liegen, waren ihr geweiht. Nach derzeitigem Stand der Forschung können wir somit davon ausgehen, dass Meter in der Interaktion zwischen Menschen und Naturraum in der pergamenischen Landschaft eine wesentliche Rolle spielte, die von der Dynastie der Attaliden weiter befördert und auch zur Legitimation ihrer Herrschaft im Kernbereich ihres Territoriums eingesetzt wurde.
Vor diesem Hintergrund waren wir sehr gespannt, ob der diesjährige Survey, der erstmals in die Landschaft bis etwa fünf Kilometer nordöstlich von Pergamon hinein ausgedehnt wurde (Abb. 2), weitere Naturheiligtümer und Hinweise auf den Kult der Meter erbringen würde. Unsere diesbezüglichen Erwartungen wurden nicht enttäuscht: Im unteren Tal des Kestel Çayı (Ketios) fiel eine besonders prominente Felsformation ins Auge (Abb. 3), von der aus man einen guten Blick über das gesamte Tal hat und die zugleich eine markante Landmarke darstellt (Abb. 4). Hoch oben in der Formation entdeckten wir eine Nische, in deren Boden zwei Dübellöcher eingearbeitet sind, die am ehesten der Befestigung eines Bildwerkes mit langrechteckigem Querschnitt dienten (Abb. 5). Eine GIS-basierte Sichtbarkeitsanalyse, in der erkennbar wird, welche Bereiche von der Nische aus sichtbar waren (Abb. 6), unterstreicht die prominente Position der Nische in Bezug auf den Unterlauf des Ketios, wo sich neben einer befestigten Siedlung klassischer Zeit auf dem Çoban Tepe auch mehrere hellenistisch-römische Gehöfte und Weiler befanden. Zugleich wird deutlich, dass der in sich abgeschlossene Charakter der Siedlungskammer auch dem Sichtfeld der Nische enge Grenzen setzte.
Abb. 4 (rechts) Ketios-Tal. Ausblick von der Nische in das Flusstal und nach Pergamon
Abb. 6 (rechts) Ketios-Tal. Viewshed der Nische. Rot markierte Bereiche sind von der Nische aus sichtbar
Da sich auf der Felsoberfläche im Umfeld der Nische kein Fundmaterial ansammeln konnte, lassen sich die Zuschreibung der Nische an eine bestimmte Gottheit ebenso wenig wie ihre Datierung unmittelbar erschließen. Am Fuße des Felsens befindet sich eine Quelle, die auch heute noch schüttet. Die Kombination aus prominenter Felsformation, Quelle und Nische für ein Bildwerk mit langrechteckigem Querschnitt (Figur auf Thron oder in Naiskos?) entspricht jedenfalls ganz dem Bild, das wir bislang vom Aussehen der Schreine der Meter in der Mikroregion Pergamon gewonnen haben.
Eine zweite Anlage wurde erst in den letzten Tagen des Surveys am Osthang des langgestreckten Hügels Uzun Bayır entdeckt, der zusammen mit dem gegenüber liegenden Taş Tepe den schmalen Zugang in eine ausgedehnte fruchtbare Hochebene nordöstlich von Pergamon bildete (Abb. 2). Beide Hügel wurden in der Antike in großem Stil als Steinbrüche ausgebeutet und müssen bei der Versorgung Pergamons mit dem vulkanischen Andesit eine Schlüsselrolle gespielt haben. Die Kultstelle wurde in einer äußerst auffälligen, spitz zulaufenden Felsformation eingerichtet, die schon von weither ins Auge fällt (Abb. 7). An ihrem Fuß entspringt wiederum eine Quelle, die erst in jüngster Vergangenheit neu gefasst wurde. Dabei legte man eine neue Terrasse an, wobei das hier gegebenenfalls vorhandene Fundmaterial verlagert oder überdeckt wurde und damit für uns unzugänglich ist. Indizien für eine Nutzung als Heiligtum sind wiederum eine Felsnische (Abb. 8) sowie eine größere Abarbeitung des Felsens im Bereich der Quelle: Boden und Felswand sind geglättet worden und heben sich damit markant gegen die naturbelassene Felswand ab. An der Wand wird die geglättete Fläche von zwei rechteckigen Nischen bzw. Aussparungen für die Anbringung kleiner Bildtafeln oder Reliefs gerahmt (Abb. 9). Die künstlichen Modifikationen des Felsens erinnern wiederum ganz unmittelbar an sicher identifizierte Felsheiligtümer in der Mikroregion Pergamon und bilden damit die Grundlage für die Deutung auch dieses Platzes als einfaches ländliches Heiligtum der Meter.
Abb. 8 (rechts) Uzun Bayır. Felsnische
Abb. 10 (rechts) Uzun Bayır. Viewshed der Felsnischen. Rot markierte Bereiche sind von der Nische aus sichtbar
Die Sichtbarkeitsanalyse der Anlage am Osthang des Uzun Bayır (Abb. 10) macht deutlich, wie dank der spezifischen topographischen Situation ein weitaus ausgedehnteres Sichtfeld erzielt wurde, das nun auch das Meter Heiligtum von Mamurt Kale und den İlyas Tepe östlich des Stadtbergs von Pergamon umfasst, auf dem sich eine weiteres Felsheiligtum befand. Damit ist der Kultplatz am Hang des Uzun Bayır sowohl in seiner Orientierung auf Mamurt Kale als auch hinsichtlich einzelner Sichtbeziehungen vollständig in das visuelle Netzwerk zwischen den verschiedenen Meter- und Naturheiligtümern integriert, das wir bislang für die westliche Hälfte der unteren Ebene des Kaikos rekonstruieren konnten (Abb. 11). Das Heiligtum am östlichen Rand des unteren Ketios Tals wirkt im Kontext des Netzwerkes hingegen wie isoliert.
Daraus lassen sich folgende, noch hypothetische Schlussfolgerungen ableiten, die in den kommenden Jahren verifiziert werden müssten: Die visuelle Region Pergamon erstreckte sich bis in die östliche untere Ebene des Kaikos, auch wenn die optische Wirkmacht der Metropole, deren Stadtprospekt ganz nach Südwesten orientiert war (Abb. 12), hier weniger dominant gewesen sein dürfte. Für die Anlage der Felsheiligtümer waren in erster Linie der Bezug zur örtlichen Topographie und die Abdeckung eines lokalen Sicht- bzw. Sichtbarkeitsfeldes von Bedeutung. Dies gilt mit Sicherheit für den Schrein im unteren Tal des Ketios, aber auch der Kultplatz am Osthang des Uzun Bayır bezieht sich in erster Linie auf die fruchtbare Hochebene nordöstlich von Pergamon (Abb. 13). Damit wird unser bisheriges Bild von den Felsheiligtümern als lokalen religiösen Manifestationen in der Interaktion von Mensch und Naturraum bestätigt. Die Einbindung des Kultplatzes am Uzun Bayır in das Netzwerk der Natur- und Meterheiligtümer und damit auch in die visuelle Region Pergamon eröffnete den Besucherinnen und Besuchern des Heiligtums darüber hinaus zahlreiche weitere Optionen der Wahrnehmung und Deutung, die hier nicht im Einzelnen erörtert werden können. Der Bezug nach Pergamon spielte in diesem Zusammenhang auf verschiedenen Ebenen eine Rolle, unter anderem durch die besondere Förderung des regionalen Meter-Kultes durch die Attaliden. Bedenkt man, dass die Hochebene östlich des Uzun Bayır nicht nur für die Versorgung Pergamons mit landwirtschaftlichen Produkten von Bedeutung gewesen sein dürfte, sondern von dort auch ein großer Teil des in der Metropole verwendeten Steinmaterials kam, wird besonders verständlich, warum man eine so wichtige Landschaft unter dem segensreichen Blick der Großen Mutter (Meter) wissen wollte.
Abb. 12 (unten) Pergamon. Rekonstruktion des Stadtprospekts von Pergamon von Südosten
Abb. 13 (oben rechts) Uzun Bayır. Blick vom Felsheiligtum in die Ebene
Weiterführende Literatur:
Ateş, G., „Pergamon´da Doğa ve Kült: Ana Tanrıça İnancı ve Doğal Kutsal Alanlar. Nature and Cult in Pergamon: Meter Worship and Natural Sanctuaries,“ in Pergamon. Anadolu´da Hellenistik bir Başkanet. A Hellenistic Capital in Anatolia, edited by F. Pirson and A. Scholl, pp. 422-435. Istanbul: Yapı Kredi Yayınları
Pirson, F., 2017 „Die Siedlungsgeschichte Pergamons – Überblick und kritische Revison. Mit einem Appendix von Anneke Keweloh-Kaletta,“ Istanbuler Mitteilungen 67: 43-130 (in particular pp. 61-62. 92-95)
Pirson, F. and Ateş G., “Wasser als (natürliches?) Element in den Naturheiligtümern am Stadtberg von Pergamon,” in Natur und Kult in Anatolien, edited by B. Engels, S. Huy., and Ch. Steitler, pp. 59-90. Istanbul: Ege Yayınları.
Pirson, F. and Ateş, “Meter in the Pergamon Micro-region: Formation, Functions, and Transformation”, in N. Lovejoy, L. D´Alfonso, et al. (eds.) Phrygia between East and West. Ancient Near Eastern Studies (in print)
Pirson, F. and Ludwig, B., “Tumuli and Natural Sanctuaries: Visual Aspects of Urban Space- and Landscape-Interaction in Hellenistic Pergamon and its Micro-region,” in Sacred Lands, Connecting Routes. Religious Topographies in the Graeco-Roman World, edited by C. G. Williamson. Leiden: Brill (in print)