Die Verbotene Stadt im Herzen Pekings ist ein offener Palast, in dem BesucherInnen aus aller Welt die Empfangshallen, Gemächer, Archive, Theater, Tempel und Gärten der kaiserlichen Familien und Beamten sehen können. Bis zu 15 Millionen Gäste nimmt der Palast jedes Jahr auf. Weil die Steinplatten auf den zentralen Achsen ganz ausgetreten waren, restaurierte das Palastmuseum viele der seitlichen Höfe und Pavillons und nutzt sie jetzt, um Sammlungen aus den Schatzkammern der Kaiser und internationale Sonderausstellungen darin zu präsentieren. Die Besucherströme verteilen sich, aber noch sind nicht alle Bauten des Palastes begehbar. Die Architekten und Bauingenieure, die für Erforschung und Erhalt der Anlagen verantwortlich sind, arbeiten unter großem Zeitdruck: 2020 wird es 600 Jahre her sein, dass Kaiser Yongle der Ming-Dynastie die Palaststadt einweihte und mit seinem Hofstaat einzog. Das Jubiläum soll mit der Freigabe von 80 Prozent der Fläche gefeiert werden. Viele der mingzeitlichen Konstruktionen liegen allerdings unter den Bauten ihrer Nachfolger und bieten dem 2015 gegründeten Archäologischen Institut des Palastmuseums reichlich Forschungsthemen.
Auch die Verbotene Stadt Peking ist wie andere Machtzentren vielschichtig. Nachdem die Dynastie Qing 1644 die Ming gestürzt und einen Teil niedergebrannt hatte, bezog sie dann aber doch den alten Palast und baute ihn bis zu ihrem Ende 1911 immer wieder um. Der letzte Neubau blieb unvollendet. Als Bauruine steht er seit hundert Jahren im „Palast des andauernden Glücks“, dem Domizil der Damen des Kaiserhauses. Warum er nicht längst abgerissen wurde und zukünftig ein Kleinod im Ensemble der Prachtbauten sein soll, hat denselben Grund, weshalb das DAI auf Einladung des Palastmuseums an seiner Erforschung beteiligt ist und Ulrike 2015 mit dem damaligen Direktor Shan Jixiang eine Kooperationsvereinbarung unterzeichnete.
Er sollte ein west-östliches Aquarium werden. Auch unfertig ist der Bau einzigartig in seiner Verschmelzung von westlicher Technologie und östlicher Formensprache. Ihn gemeinsam mit einem deutsch-chinesischen Team zu erforschen, schafft Wissen, das eine Seite allein nicht gewinnen kann. Ulrike leitete die erste Summerschool 2016 am „Pavillon im beseelten Teich“ (Lingzhao Xuan), der vermutlich in Anlehnung an europäische Vorbilder aus dem späten 19. Jahrhundert „Kristallpalast“ genannt wird. Sie lehrte verformungsgerechte Bauaufnahme und beeindruckte die jungen Kolleginnen und Kollegen mit ihrer Leidenschaft für die Bauforschung, mit ihrem Wissen und ihrer Beharrlichkeit, wenn es darum ging, einem Problem auf den Grund zu gehen. Erste Ergebnisse hat Ulrike noch zusammen mit den Kollegen veröffentlicht. Was von ihr bleibt, ist aber viel mehr, es ist der Antrieb in einigen, die dabei waren, das Projekt zu vollenden. Ob das Aquarium tatsächlich einmal die Wasserwelt sein wird, die sich Kaiserinwitwe Longyu 1909 wünschte, oder ob die Rekonstruktion virtuell bleibt, ist noch nicht entschieden. So oder so ist unsere Erinnerung an Ulrike unlösbar mit dem Palast verbunden und leuchtet auf, wenn wir durch die Höfe und Gassen der Verbotenen Stadt laufen.
Im Juni 2009 hielt sie als erste DAI-Kollegin an der neu gegründeten Außenstelle Peking einen Vortrag: „Architektur der Macht. Neue Forschungen zu den Kaiserpalästen auf dem Palatin in Rom“. Von Anfang an analysierte sie mit vergleichender Perspektive beide Paläste, den in Rom und den in Peking. Sofort traf sie den richtigen Ton und gewann damit ihr Publikum, das europäische und das chinesische. So war sie: verstehend und verständlich, verbindend und verbindlich. Deshalb durfte sie mit ihrer Arbeitsgruppe im Kaiserpalast Peking an Bauten forschen, wo Ausländern sonst nur betrachten erlaubt ist.
Ulrikes Arbeit in Peking hat die Kooperation zwischen dem Palastmuseum und dem DAI gestärkt, Interesse und Vertrauen geschaffen, Perspektiven eröffnet. Die zweite Summerschool in Zusammenarbeit mit der TU Berlin ist gerade erfolgreich zu Ende gegangen. Genau das, was ihr immer wichtig war, hat Ulrike auch in Peking erreicht: über ihre Zeit hinaus durch junge Leute in die Zukunft zu wirken.
Mayke Wagner, Chen Xiaocheng, Patrick Wertmann, Joy Zhou und alle Kolleginnen und Kollegen, die die Ehre und Freude hatten, Ulrike Wulf-Rheidt auf ihren Wegen in Peking zu begleiten.